Sonntag, 29. November 2009
Nervöse Typen
Die Taxifahrer in Changchun sind hypernervös. Immer wieder überraschen sie mit interessanten Manövern – zum Beispiel das Überholen auf dem Bürgersteig. Aus der Perspektive des Beifahrers hat das oft Slapstickcharakter: Die Fahrer geben sich lässig und unbeeindruckt, während sie wild hupend die Fußgänger umkurven. Oft hängt ihnen dabei eine Zigarette im Mundwinkel und aus dem Radio plärren chinesische Schnulzen.

Kommt das Vehikel dann tatsächlich mal vor einer Ampel oder in einem Stau zum Stillstand, ist die Nervosität nicht mehr zu übersehen. Eigentlich könnte man sich in solchen Situationen ja mal entspannt zurücklehnen und durchatmen – nicht so chinesische Taxifahrer. Gaspedal durchdrücken, Motor aufheulen lassen, Kupplung kurz kommen lassen, bremsen. Ab und an Ausbruchsversuche in den Gegenverkehr, die von vornherein zum Scheitern verurteilt sind. Dazu ständiges Hupen. Sowieso scheint es so etwas wie eine Downloadbörse für Huptöne zu geben. Von Schiffshörnern bis zu kurzen Melodien ist alles dabei – Hauptsache laut und auffällig. Übersehen oder überhört zu werden ist offenbar die schlimmste Vorstellung der Taxifahrer. Wenn man die Fahrer so bei der Arbeit beobachtet, drängen sich Rückschlüsse von ihrer Psyche auf den Geisteszustand des ganzen Landes auf. Denn nervös wirken die meisten.

Wie schnell wird man doch abgehaengt...

Auch in der Schule begegnet mir die allgemeine Aufgeregtheit ständig. Besonders deutlich Samstagabends nach Schulschluss. Dann stehen Horden aufgekratzter Eltern vor den Toren und warten auf ihre Sprösslinge. Mit ihren Autos lösen sie dabei jedes Mal ein Verkehrschaos aus. Insbesondere gut betuchte Väter fallen unangenehm durch ihr Imponiergehabe auf, indem sie ihre Schlitten mitten auf der Straße abstellen. Dabei hat derjenige mit dem größten Auto das Recht auf die größten Rücksichtslosigkeiten. Dann stehen sie rauchend herum und warten auf die Stammhalter. Die Mütter tippeln nervös auf den Zehenspitzen herum und spekulieren über den Zaun auf das Schulgelände. Vor ihren Nasen hängen großformatige Listen der Besten der letzten Jahrgänge. Die machen sie nervös. Es wäre nicht zu ertragen, wenn der eigene Spross sich eines fernen Tages nicht auf Platz unter den Top Ten wieder finden würde.

An diese unsichere Nervosität der Eltern appellieren nervöse Lehrer. Ständig werde ich angesprochen von jungen Kollegen, die auch endlich am großen Rad drehen wollen. In China rangieren Lehrer auf der Gehaltsrangliste weit hinten. Um eines fernen Tages die eigenen Kinder mit einem der neuen tollen Autos von der Schule abzuholen, muss man sich also was einfallen lassen. In der Kantine werde ich deshalb, wie alle anderen Ausländer auch, verschwörerisch angesprochen: ‚Pass auf. Wir machen das so: Wir warten dieses Semester ab und dann gründe ich meine eigene Fremdsprachenschule. Dann musst Du bei mir arbeiten. Ich zahl auch besser.’ Wenn man ernsthafte Ambitionen hat, braucht man schließlich irgendeinen Ausländer den man vorzeigen kann. Im Kollegium gehen offenbar Gerüchte, dass auf diese Weise lukrative Geschäfte locken. Kann ich mir gut vorstellen, schließlich haben die Eltern eine Heidenangst, ihr Kind könnte aufgrund mangelhafter Fremdsprachenkenntnisse abgehängt werden.

alles neu - will ich auch haben

Wie die Taxifahrer, die nervös nach dem richtigen Weg suchen, verhalten sich oft auch Kunden in den großen Supermärkten. Ja nicht das richtige Angebot oder das neuste Produkt verpassen. Das ist nicht so einfach, denn täglich werden neue schöne Dinge eingeführt. Um ihrer Orientierungslosigkeit Herr zu werden, richten sich viele Kunden nach der Werbung. Die ist in China oft unfassbar plump. Auf Plakaten halten debil grinsende Menschen dem Betrachter ein Getränk, einen Schokoriegel oder ein Duschgel entgegen. Die reine Masse an Promotion und bunten Bildern, die oft auch noch akustisch untermalt wird, führt zu völliger Reizüberflutung. In den Märkten kann man Szenen beobachten, die ich als Panikkäufe bezeichnen würde – Taxifahrerstyle.

Kaufrausch - im Vordergrund Tubenhuhn



Montag, 16. November 2009
Konkret reden
6 Wochen Unterricht – und ich stelle fest: China is the greatest. In den ersten Wochen habe ich viel über fremde Länder erzählt. Darüber haben die Schüler nur rudimentäres Wissen. Nur eins wissen sie ganz genau – dem Vergleich mit China kann kein anderes Land standhalten. China ist einfach zu geil. Außerdem sieht es auf der Karte aus wie ein Huhn. ‚What does China look like?’ ‚It looks like a chicken, teacher!’. Lustig wird es, wenn ich die Umrisse des Landes an die Tafel male und dann einen Kamm, Beine und Schwanzfedern hinzufüge. ‚China does not only look like a chicken – it actually IS a chicken.’ Einige fühlen sich dann ernsthaft in ihrem Nationalstolz gekränkt. ‘No Teacher. Can’t do this!’. Kann ich wohl. Seht ihr doch.

Wenn ich über andere Länder rede, wird alles, was gesagt wird, als Tatsache hingenommen. Nachfragen gibt es nie. Viel zu abstrakt. Einerseits verständlich, denn China ist ja nicht unbedingt für seine Offenheit bekannt. Informationen über andere Länder sind selten und Reisen ins Ausland für die meisten Chinesen utopisch. Das spiegelt sich auch in der Schule wieder, denn auch die Fremdsprachenlehrer haben selbst nie die Länder bereist, deren Sprachen sie vermitteln sollen. Sie kennen die Grammatik und die Vokabeln. Entsprechend werden Sprachen unterrichtet – wie in Mathe werden Formeln zum korrekten Satzbau gelehrt. An manchen Tagen nervt mich das ungemein. Nie kommt es zu Gesprächen oder Diskussionen. Habe schon mit dem Gedanken gespielt, mir einfach mal ein ganz neues Land auszudenken. Vielleicht ein Land namens ‚Bohemia’, dem Land der Intellektuellen und Individualisten, wo jeder macht, was er will, am liebsten Bildhauerei oder Gartenbaukunst. Oder auch ‚Macadamia’, dem Land des Nusseises und der jährlichen Eichhörnchenplagen. Oder ‚Budspencerstan’, dem Land des Faustrechts und der Kneipenschlägereien. Ich bin sicher, es gebe keine Nachfragen.

Letzte Woche hat mich der Ehrgeiz gepackt. Zusammen mit den Schülern wollte ich ein Lied interpretieren. Lange hab ich in meinem Archiv gewühlt und überlegt, was am einfachsten zugänglich ist. Da viele Themen wie Politik oder persönliche Freiheit immer eine Gratwanderung sind, bin ich bei einem Liebeslied hängen geblieben. ‚Sweet Child O’Mine’ von Guns N’ Roses. Allein schon, weil dort viel vom Wetter die Rede ist und das hatte ich in der Woche davor abgearbeitet. Zum Beispiel diese Zeile: ‘She's got eyes of the bluest skies’. Nachdem ich sichergestellt habe, dass alle die Vokabeln verstanden haben, wollte ich wissen, worum es genau geht. Bedrückendes Schweigen. Ratlosigkeit. ‚Findet der Sänger die Frau schön?’ Hilflosigkeit, unsichere Blicke. In vielen Klassen hab ich’s versucht. Überall mit demselben Ergebnis – und das liegt nicht daran, dass hier niemand blaue Augen hat. Bin dann dazu übergegangen den Song zu spielen und danach kommentarlos über etwas anderes zu sprechen – zum Beispiel gefährliche Tiere. Die gehen immer. Den Schülern kann man daraus aber keinen Vorwurf machen – hate the game, not the player, hab ich mal gehört.

Die Italienerinnen sind natürlich Schauspieler.

Um Momente unangenehmen Schweigens zu vermeiden, sollte man also lieber auf altbewährt konkrete Themen zurückgreifen. Hervorragend funktioniert Essen. Jeder Mensch muss essen. Außerdem haben Lebensmittel eine Farbe, eine Form und sie schmecken und riechen. Das Gericht, was sich am besten eignet, ist Hotpot. Man kann einfach alles hineinschmeißen. Fleisch und Gemüse oder auch Fisch und Meeresfrüchte. ‚Welche Farbe hat Blumenkohl?’, ‚It’s white, teacher!' ‚Wie viele Arme hat ein Tintenfisch?’, ‚Eight, teacher!’. Auch kann man den Sud unterschiedlich würzen. ‚Wie schmeckt Chili?’, ‚It’s hot, teacher?’ .Heute habe ich es tatsächlich geschafft, 45 Minuten über Hotpot zu reden – allerdings mit Nachtisch und Getränken.

Leichtes Spiel mit Essen und Trinken.

Diese Art Unterricht macht Spaß. Den Schülern und mir. Sie lernen fleißig Gemüse- und Fleischsorten und ich hab was zu lachen. Mit etwas Glück werden Lebensmittel dann sogar in einem der Tests abgefragt. Obwohl es für diese Tests eigentlich egal ist, was für Wörter eingetragen werden müssen. Der Inhalt spielt keine Rolle. Man könnte die Schüler genauso gut zwingen, eine Gebrauchsanweisung für eine Waschmaschine auswendig zu lernen.

Hotpot macht glücklich.

Randnotiz: In der Changchun Foreign Language School müssen Lehrer und Schüler gleichermaßen Schnee und Eis schippen.



Mittwoch, 11. November 2009
Elterngeld mal anders
Fast alle Kinder in der Changchun Foreign Language School sind Einzelkinder. 'Habt ihr Geschwister’? 'No Teacher! Mei You Bruder oder Schwester!'.

Die Ein-Kind-Politik hat zweierlei zur Folge: Zum einen stehen die Schüler dadurch unter noch höherem Druck: Zusätzlich zur totalen Schule, werden sie von ihren Eltern auch in der spärlichen Freizeit zum permanenten Lernen angetrieben - schließlich lastet auf ihren Schultern der Druck die einzigen Ernährer der Zukunft zu sein.
Zum anderen werden sie aber auch total verwöhnt. Die Wendung 'Kleine Kaiser' kommt wohl nicht von ungefähr. Sonntags ist der Tag der Familienausflüge. Offenbar ist Einkaufen eine besonders beliebte Unternehmung. In den großen Supermärkten kann man dann überall propere Kinder beobachten, die betüdelt und umringt von Mama, Papa, Oma und Opa, die Einkaufswagen voll machen. Danach geht's dann zu KFC oder McDonlald's den Bauch voll machen.

Wie aber schafft man es, ein so großes Volk dazu zu bringen, nur ein Kind pro Familie zu haben? Ich habe Seagull gefragt. Sie hat sogar eine kleine Schwester. Ich war verblüfft. Die hat ihrer Familie allerdings Geld gekostet – auf Zweitgeborene wird eine Strafe, ein Kindergeld sozusagen, verhängt. Auf Wunsch gibt es im China des Aufschwungs also für etwas besser situierte Familien die Möglichkeit, die 1-Kind-Regelung zu umschiffen. Seit einiger Zeit dürfen auch Eltern, die ihrerseits beide Einzelkinder sind, 2 Kinder bekommen. Ansonsten wird die Familie zu klein und die Versorgung der Alten ist gefährdet.

Trotzdem sind Geschwister in den Städten noch die Ausnahme. Auf dem Land ist ein zweites Kind erlaubt, wenn das erste ein Mädchen oder behindert ist. Hier folgt man dieser Logik: Ein Mädchen kann nicht so gut auf den Feldern arbeiten, außerdem wird sie irgendwann heiraten, wegziehen und eine andere Familie umsorgen – deshalb muss unbedingt ein Junge her. Die Kombination Mädchen-Junge oder auch Mädchen-Mädchen-Junge ist deshalb relativ häufig. Noch vor Jahren durften auch Landbewohner nur ein Kind haben - das führte dann aber zu hohen Abtreibungsraten und sogar Kindstötungen. Grauenhaft. Besonders um Abtreibungen zu verhindern, ist es verboten, das Geschlecht des Kindes vor der Geburt festzustellen. Außerdem fühlt der Staat sich veranlasst, den öffentlichen Raum auf dem Land mit Propagandabannern mit Slogans wie ‚Mädchen sind auch gute Kinder’ und ‚Es ist verboten Mädchen zu diskriminieren’ zu plakatieren.

Die städtische Bevölkerung wird von der Propaganda angehalten ‚Spät zu heiraten und spät Kinder zu bekommen’. In Deutschland muss man uns das ja nicht extra sagen. Sind wir nicht genau deshalb sogar auf einem absteigenden Ast und sterben bald aus? Dass die Chinesen aussterben, will das Familienplanungsministerium ganz sicher nicht erreichen. Nur dass sich die Bevölkerung nicht allzu schnell wächst.

Ich finde das alles relativ unheimlich und auch unübersichtlich – wenn man aber drauf achtet, ist die Familienplanung allgegenwärtig. Am deutlichsten sichtbar für mich natürlich in der Schule. Aber auch sonst: In Drogerien, Supermärkten und Apotheken werden Kondome unter der Rubrik ‚Family Planning’ feilgeboten, Sterilisationskliniken werben auf Bussen und Häuserwänden. Angeblich wird die Sterilisation des Mannes nach einmaliger Vaterschaft sogar vom Staat bezuschusst. Ein-Kind-Familien erhalten längere Elternzeit und andere finanziellen Vorteile. China stellt sogar ein ‚Ehrenzertifikat für Eltern EINES Kindes’ aus – es ist ein patriotischer Akt eine Ein-Kind-Familie zu haben. Ursula von der Leyen hätte hier auf jeden Fall keine Chance auf das Amt der Familienministerin. l



Montag, 2. November 2009
Vorm Tor eiskalt - Changchun Yatai
Der Winter kam plötzlich. Sibirische Verhältnisse haben Einzug gehalten in Changchun - und das pünktlich zum Saisonfinale der chinesischen Super Soccer League. Nicht dass das hier irgendjemanden auch nur im Geringsten interessieren würde - Fußball ist und bleibt eine Randsportart. Obwohl 'Changchun Yatai', das Profiteam der Stadt, über Jahre die chinesische Liga domniert hat, kennt es kaum jemand. So auch der Taxifahrer, der mich mit zwei gleichgültigen Neuseeländern zum Spiel fahren sollte - er erwischte original das falsche Stadion. Ratlosigkeit. 'Wer soll hier spielen und wann?', fragt er ahnungslos. Für mich völlig unverständlich, kann sein Team doch dieses Wochenende erneut chinesischer Meister werden. Es ist nämlich so: An der Tabellenspitze befinden sich mit jeweils 48 Punkten Beijing Guoan und Henan Siwu, gefolgt von Changchun Yatai mit 47 Zählern. Yatai muss also auf Patzer der anderen Teams lauern.

Nach einer endlosen Tour durch die Stadt, erreichen wir dann mit Verspätung das richtige Stadion. Karten sind kein Problem. Das Taxi wird sofort von bestürmt von Ticketverkäufern - 3€ das Stück sind nicht zuviel.

Drinnen ist es zugig. 15 Grad minus und ein eisiger Wind. Ich merke sofort, dass mein Schuhwerk nicht wintertauglich ist. Das Stadion ist etwa zu einem Viertel gefüllt, etwas abseits in der Kurve haben sich die Ultras schon warmgesungen. Sie tragen einheitlich rote Shirts und haben die Banden mit Transparenten ausgekleidet. Zu hören sind Fangesänge, die mir aus deutschen Stadien bekannt sind. Das wirkt irgendwie niedlich, sieht die Gruppe aus der Entfernung doch echt verloren aus. Aber man merkt, sie hoffen und fiebern noch auf den Titelgewinn.

Dann passiert es. Yatai geht mit 1:0 in Führung. In der Fankurve werden bengalische Feuer gezündet. Die Euphorie vertreibt die Kälte, denn gleich wird nachgelegt. 2:0 kurz vor Ende der ersten Halbzeit. Nützt aber alles nichts, wenn nicht gleichzeitig Peking und Henan patzen. Dann auch noch der Anschlusstreffer für den heutigen Gegner Chongqing Lifan, der offenbar ohne den guten alten Kugelblitz Ailton angereist ist.

Die Homecrowd ist außer sich. Noch kann Yatai Meister werden.

Halbzeit. Kein Bier, keine Bratwurst. Sonnenblumenkerne sind hier der einzige Stadionsnack - allerdings ist es unmöglich die Kerne bei dieser Kälte zu öffnen. Dann geht's weiter. Jetzt bei Flutlicht. Das Spiel plätschert nur so dahin - irgendwann fällt aus heiterem Himmel das 3:1. Verhaltener Jubel. Auch die Ultras wirken jetzt wie eingefroren. Vielleicht sind sie es sogar, sie stehen mit dem Gesicht im immer stärker werdenden Wind. Die Temperaturen sind noch mal um ein paar Grad abgerutscht seit die Sonne weg ist. Vielleicht haben sie aber auch von Pekings Führung erfahren. Um das zu klären, reichen meine Sprachkenntnisse nicht aus.

Vorm Tor eiskalt - Changchun Yatai

Gegen Ende fällt noch das 3:2. Das war's - leider hat es nicht zur Meisterschaft gereicht - Peking hat einen souveränen Sieg eingefahren und ist somit chinesischer Meister. Für die Provinzkicker aus Changchun reicht es immerhin noch für Tabellenplatz zwei, denn Henan hat noch Punkte gelassen.

...die Ultras schöpfen noch Hoffnung

Der Stadionbesuch war ein interessantes, wenn auch eiskaltes, Ereignis. Die chinesischen Fans sind mit Leib und Seele dabei. Sehnlichst wünschen sie sich mehr Anerkennung für die Super League – ihre Vorbilder spielen allerdings deutlich erkennbar an ihren Fanklamotten in den europäischen Ligen – ManU und AC Mailand sind dabei die Favoriten. Als wir das Stadion verlassen, ist da wieder diese Gleichgültigkeit. Das Stadion liegt ein Stück außerhalb der Stadt – kein Bus, kein Taxi in Sicht und so bleibt uns ein Gewaltmarsch bei sibirischen Verhältnissen nicht erspart. Ailton hat mal wieder alles richtig gemacht. Er hat es wohl kommen sehen – Abstieg seines Teams in die zweite Liga, arktische Kälte und schlechte Laune. Dann lieber Vertragsverhandlungen in der albanischen Provinz.

alles gegeben und doch verloren -  Yatai-Fan



Freitag, 23. Oktober 2009
Tücken des Alltags
Die Menschen in China begegnen den Widrigkeiten des täglichen Lebens mit großem Gleichmut. Ich versuche, mir auch diese Art von Gelassenheit anzueignen. Gar nicht so einfach, wenn ständig der Strom ausfällt oder das Wasser über Tage nicht läuft. 'Mei You' höre ich dann ständig und überall.

'Mei You' bedeutet 'nicht haben'. in den letzten Wochen hatte ich so einiges nicht. 'Mei You Shui' - 'Kein Wasser haben' ist dabei das schlimmste 'Mei You'. 100 Leute habe ich gefragt, wo das Wasser bleibt. Die 10 häufigsten antworten waren:

1. Mei You
2. Mei You
...
10. Mei You

Beim Familienduell mit Werner Schulze-Erdel hätte man leichtes Spiel. Irgendwann lief das Wasser dann wieder. Allerdings nur kalt. 'Wieso habe ich kein warmes Wasser?' frage ich den Hausmeister. Als Antwort erhalte ich ein Schulterzucken und das obligatorische 'Mei You'. Ich schalte weitere Personen ein. Nach einigen Tagen tauchen immer mal wieder irgendwelche Leute in meiner Wohnung auf und nehmen den Durchlauferhitzer in Augenschein. Kaputt das Ding. 'Kann man das reparieren?', 'Mei You Ersatzteile!'. Tja. Und jetzt? Im Zuge des Warmwassermangels werde ich Mitglied in einem Fitnesscenter - im Grunde nur um zu duschen. Das war auch nötig, 6 Tage ohne warmes Wasser haben mir übel zugesetzt.

Irgendwann frage ich mal wieder nach, ab wann ich denn wieder mit warmen Wasser rechnen könne. Ich ernte einen ungläubigen Blick des Hausmeisters. Er kommt mit in meine Wohnung, macht den Wasserhahn an und siehe da - warmes Wasser. Es stellt sich heraus, dass während meiner Abwesenheit Handwerker in meiner Wohnung waren. Zwei Dinge kommen mir dabei komisch vor:
1. Warum können fremde Menschen einfach so in meine Wohnung kommen, wenn ich nicht da bin und
2. Warum erzählt mir niemand von der Reperatur?

Neuerdings legt die sonst so zuverlässige Miss Zhou ein ähnliches 'Mei You'-Verhalten an den Tag. Seit einigen Tagen hat sie meinen Reisepass. Damit muss sie zur Polizei und mein Visum verlängern lassen. Ohne Pass fühl ich mich bewegungsunfähig, eigentlich bin ich es sogar. Könnte jetzt nicht ohne weiteres das Land verlassen. Auf Nachfrage, ob ich meinen Pass wiederhaben kann, antwortet sie: 'Mei You'. Was sonst?

Auch ist der Geldfluss ins Stocken geraten. Funktionierte er bisher tadellos, habe ich mir heute morgen das erste 'Mei You' vom Kassenwart eingfangen. Immerhin schickte er noch hinterher, dass Montag Zahltag sei. Was ist da los? Ich räche mich oft an falscher Stelle. Die Englischlehrer sind stark an meinen Präsentationen aus dem Unterricht interessiert. Immer häufiger antworte ich auf die Anfragen mit einem trotzigen 'Mei You'. Allerdings bin ich auf sie angewiesen, da ich sie häufig als Übersetzer missbrauche. Mit meinem Verhalten riskiere ich also weitere 'Mei You'. Langfristig ist 'nicht haben' für mich also keine Option.

Diese ständigen 'Mei Yous' zwingen mich zur ständigen Improvisation. Aber ich glaube, damit bin ich nicht alleine. Dem ganzen Land scheint es zu gehen. Irgendwas fehlt immer. Im Straßenbild wirkt vieles notdürftig zusammengebastelt. Diese Zusammenflickmentalität ist vermutlich der Grund, weshalb man in China so wenig auf Ästhetik achtet - Improvisationen haben zwar Charme, sind aber selten hübsch anzusehen.

In meinem Alltag, also im Unterricht, macht sich das immer dann konkret bemerkbar, wenn entweder der Computer kaputt ist oder der Strom ausfällt. 'Mei You Strom' heißt es dann. Also irgendwas aus den Fingern saugen. So langsam beherrsche ich diese Disziplin ganz gut - nur beim Wasser ist das ganze echt unangenehm. Wie schnell Dinge doch ohne Wasser verdrecken. Erstaunlich.



Samstag, 17. Oktober 2009
Fließbandteaching
Diese Woche war die erste wirkliche Unterrichtswoche. 21 Stunden in 21 Klassen. Das hat so seine Vor- und Nachteile. Zum einen kann ich den Stoff natürlich 21-mal recyceln, zum anderen ist es aber auch unglaublich stumpf, so oft das gleiche zu erzählen. Donnerstags sogar 6-mal hintereinander ohne Pause. Zwischendurch habe ich mich gefühlt, als könnte ich mir selbst bei der Arbeit zusehen. In diesen Stunden kann ich dann entspannt am Rand Platz nehmen und beobachten, wie ein anderer, der so aussieht wie ich, meine Arbeit macht.

In der ersten Stunde habe ich noch versucht, mir die Namen der Schüler zu merken. Unmöglich. So sehr ich auch dagegen ankämpfe - nach ein paar Stunden nehme ich die Schüler nur noch als gleichförmige Masse in blauen Trainingsanzügen war. Alle sehen irgendwie gleich aus und verhalten sich auch so. Auch die englischen Namen, die sie sich ausgesucht haben, wiederholen sich ständig. Kevin, Peter, Jack und Linda, Nicole, Tracy. Einer hat sich Durex ausgesucht. Den kann ich mir merken. Ein Mädchen heißt Apple. Finde ich auch nicht schlecht, es entspricht der genauen Übersetzung ihres chinesischen Namens.

Auch laufen die Stunden immer gleich ab. Ich werde begrüßt von euphorischem Jubel. 'Hello Teacher!, How are you?'. Dann stelle ich mich vor und erzähle wo ich herkomme. Jeder kennt Volkswagen aber keiner kann Deutschland auf der Karte zeigen. Das ist aber auch nicht das Thema - wir sind ja schließlich im Englischunterricht. England findet aber auch keiner, wohl aber die USA, Kanada und Neuseeland. Die USA und Kanada, weil es große Länder sind und Neuseeland weil es so bemitleidenswert klein ist. Als ich Deutschland und England auf der Karte zeige, wundern sich alle über die mickrige Größe. Von einer so großen Autonation kann man jawohl etwas mehr Fläche erwarten. Einige wirken enttäuscht, fast ein wenig mitleidig.

Habe mir überlegt, dass ich in meiner Zeit als Yang Laoshi die wichtigsten englischsprachigen Länder durchgehe. Länderkunde gibt so einiges her. Angefangen bei bedeutenden Städten über Königinnen und Präsidenten bis hin zu Essen, Sport, Freizeit, Tieren und Musik.

Heute ist England. Das einzige, was alle über dieses Land wissen, ist die Existenz des so genannten Big Ben. Er taucht in ihrem Lehrbuch auf. Ansonsten ist da nicht viel. Zum Glück gibt es die Olympischen Spiele. Im Laufe der Woche werden sie zu meiner Allzweckwaffe. Jeder kennt die Geschichte dieser Veranstaltungsreihe. 2008 Peking, 2012 London. Das wissen alle. Nur nicht, dass London in England liegt. 'Auch der Big Ben steht in London', erwähne ich beiläufig. Verdutzte Blicke. Weiter geht's mit Essen. Das läuft hervorragend und man kann es gut mit Tieren und Pflanzen verbinden. Ich erfahre sogar von der Existenz eines 'Meat-Trees'.

Den Schlussakkord in meinen Stunden setzt diese Woche John Lennon. Als die letzte Stunde am Freitag zu Ende geht, habe ich in 5 Tagen 21-mal Yesterday gesungen, unzählige Witze über Queen Elizabeth gerissen und endlose Bestandsaufnahmen der englischen und chinesischen Esskultur abgearbeitet. In dieser Woche konnte ich meine Showmasterqualitäten immerhin vor rund 630 Schülern unter Beweis stellen. Am Ende heißt es dann immer im Chor und in einer Wahnsinnslautstärke ‚Bye Bye Teacher!’

In den ersten Tagen habe ich meinen Job als unheimlich anstrengend empfunden. Relativ anstrengend, verglichen mit dem Alltag der Schüler musste ich dann feststellen. Jeden Tag 12 Stunden Unterricht (auch Samstags) und danach Hausaufgaben machen gehen nicht spurlos an den Kids vorüber. Man sieht Ihnen an, dass sie total übermüdet sind. Dafür spricht auch ihre liebste Freizeitaktivität neben Lernen. Danach gefragt antworten die meisten: Schlafen. Die Schule lässt sie einfach nie in Ruhe. Selbst die Pausen sind mit reichlich Programm angefüllt. Fahnenappell, Marschieren üben, Klassenräume aufräumen und Augenentspannungsübungen. Für diese Übungen schallt unmittelbar nach der dritten und der sechsten Stunde "Entspannungsmusik' durch die Lautsprecher. Wirklich entspannend kann das nicht sein, denn die Musik wird von einer schrillen und lauten Stimme begleitet, die immer wieder von 10 abwärts zählt. 5 Minuten dauern diese Übungen. Währenddessen müssen sich alle die Augenpartien massieren. In jeder Klasse wird ein Schüler abgestellt, der alle anderen überwacht, damit auch ja alle mitmachen.

Augenentspannung.

Auch wird ein Wahnsinnsdruck auf die Schüler ausgeübt. In den Klassenräumen hängen Spruchbänder, die die Schüler auffordern noch mehr zu lernen. Ergebnisse von Klassenarbeiten werden öffentlich gemacht und am Eingangstor der Schule hängen endlose Listen der Absolventen, die es auf die Universitäten geschafft haben. Gehört man am Ende seiner Schulzeit nicht dazu, kann man sich getrost als Versager betrachten. Unglaublich das.

Wird Zeit für Pink Floyd und 'Another Brick in the Wall'.



Montag, 12. Oktober 2009
Riders in the dust
Am Sonntag hatte ich das Vergnügen an einem Motorradausflug teilzunehmen. Ein Freund von mir hat 2 Crossmaschinen im Keller. Geil. Er lud mich ein, mit ihm einen kleinen Ausritt zu wagen. Das sollte sich lohnen.

Zuerst hatte ich Schiss. Die Straßen in Changchun werden beherrscht von Geisteskranken und Lebensmüden – so dachte ich zumindest. Nimmt man aber aktiv am Verkehr teil, ist es doch relativ leicht. Im Grunde muss man nur drei einfache Regeln beachten – die aber konsequent.

Die erste: niemals zögern. Gilt auch als Fußgänger. Immer einen zielstrebigen Eindruck machen. Auch wenn man nicht weiß, wohin man will. Dadurch wird man für die anderen Fahrer berechenbar.
Die zweite: Vorfahrt immer selbst nehmen. Sowas wie rechts vor links gibt’s hier nicht. Wenn man darauf wartet vorgelassen zu werden, greift Regel 1. Man wirkt irrational und nicht zielstrebig. Die anderen Fahrer können mit diesem Verhalten nicht umgehen – Unfälle werden wahrscheinlicher. Also lieber einfach ein beliebiges Ziel anpeilen und los.
Die dritte: auf keinen Fall vom Gehupe beeindrucken lassen. Das hat absolut nichts zu bedeuten.

Beherzigt man diese Regeln, macht Motorradfahren Spaß. Ich hatte allerdings einen erfahrenen Fahrlehrer, der mich wirklich beeindruckt hat. Für ihn ist das alles Routine und ich brauchte ihm einfach nur hinterher zu fahren. Er achtete auch darauf, dass wir die wirklich durchgeknallten Kreisverkehre mieden und so schnell wie möglich aus der Stadt kamen. Auch das wirkt auf mich außerordentlich beeindruckend, denn ich leide noch immer unter großer Orientierungslosigkeit.

am Anfang war ne Panne - aber Mike and the Mechanics waren gleich zur Stelle

Verlässt man die Stadt, wird es wirklich verrückt. Die Stadt wächst ins uferlose. Allerdings nicht wild und unstrukturiert, sondern generalstabsmäßig geplant. Als erstes werden große Streifen einfach mal asphaltiert. Diese dienen dann später als Ausfallstraßen. Die Stadt wächst dann in den nächsten Monaten an ihnen entlang. Rund herum um diese riesigen Baustellen geht das Leben der Landbevölkerung seinen gewohnten Gang. Zurzeit ist Maisernte und überall liegen große gelbe Haufen. Geerntet und geschält (Schält man Mais?) von Hand. Häufig kommen uns Eselskarren oder motorisierte Dreiräder voll beladen mit der Ernte entgegen. Geritten von Frauen und Männern mit zerfurchten Gesichtern. Was geht in ihren Köpfen vor? Jeden Tag sehen sie ihren Lebensraum schrumpfen - der allegenwärtige Fortschritt lässt hier niemanden in Ruhe.

Maisernte vor beeindruckender Kulisse

Irgendwann enden dann die Baustellen aber die Stadt verschwindet trotzdem nicht. Die Kraftwerke wurden ins Umland gestellt und sehen aus der Entfernung apokalyptisch aus. Außerdem kommen wir oft an wilden Müllkippen vorbei. Dazwischen überall Bauern bei der Ernte. Die Felder werden allerdings größer, je weiter man fährt - wir fahren auf Trampelpfaden durch ein Labyrinth aus Mais. Auch erstaunlich: Glaubt man, zum ersten Mal seit langem alleine zu sein, kommt irgendwo aus einem Gebüsch ein Typ. Manchmal auf dem Fahrrad, manchmal auf dem Moped, manchmal zu Fuß. In China ist man nie allein.

Das erste Dorf durch das wir kommen, hat auch etwas Bemerkenswertes zu bieten. Hier gibt es einen Hundezüchterverein. Spezialisiert auf Deutsche Schäferhunde. Auf einem Rasenplatz trainieren Chinesen ihre Tiere und bringen ihnen Befehle bei. Die Befehle werden hierbei auf Deutsch gerufen. ‚Sitz’, ‚Fuß’, ‚Platz’ schallt es aus allen Richtungen. Die Hunde gehorchen. Als klar wird, dass wir aus dem Land der Hunde kommen, zücken alle ihre Kameras. Wir müssen mit den Chefs posieren und danach einige Hunde an der Leine halten. Richtig professionelle Fotografen haben die da. Wahrscheinlich werden unsere Gesichter demnächst in der chinesischen Ausgabe der ‚Hunde-Revue’ veröffentlicht.

Posieren für die Hunde-Revue

Wir fahren weiter. In einem großen Bogen zurück in Richtung Changchun. Je näher wir der Stadt kommen, desto düsterer wird es. Das liegt aber nicht so sehr daran, dass es allmählich Abend wird, sondern an den Baustellen. Sie produzieren unfassbar viel Staub. Was genau alles gebaut wird, kann man gar nicht genau ausmachen. Auf jeden Fall eine große Trasse für eine Bahn- oder Autobahnlinie und jede Menge Wohnsilos. Entlang der Baustellen stehen die Baracken der Arbeiter. Ein staubiges Leben. Mir kommt das alles surreal vor – der Lärm, der Dreck, die Menschen. Und das endlos.

Der Staubige

So langsam erreichen wir wieder dann aber wieder befestigte Straßen. Immer wieder unterbrochen von irgendwelchen Bauarbeiten, die man umfahren muss. Aber auch die werden weniger, je näher man der Stadt kommt. Auch der Staub wird allmählich weniger, der Verkehr und die Abgase dichter. Willkommen zu Hause. Das war ein Wahnsinnsstrip, der mir noch zu denken gibt.

Easy Rider



Montag, 5. Oktober 2009
Parallelwelt
60 Jahre China - voller Vofreude habe ich zusammen mit (gefühlten) Millionen anderen Provinzlern einen Zug bestiegen, um mit ihnen gemeinsam den Geburtstag ihres Landes am 01. Oktober zu begehen. Schon auf dem Bahnhof wird man von Propagandaspruchbändern aufgefordert, inbrünstig und harmonisch zu feiern.
Am Vortag des Großereignisses schwankt die Stimmung zwischen erwartungsfrohem Gespanntsein, heiterer Glückseligkeit und überbordenem Nationalstolz - das ganze befeuert durch allgegenwärtige Großbildschirme, die die glorreiche Geschichte des Landes auf die Passanten niederprasseln lassen.

Das offizielle China ist offenbar eher angespannt. Nichts soll die Geburtstagsfeier stören. Überall Polizei und Militär. Jede Tasche wird gescannt, sobald man eine U-Bahn nutzen möchte. Jeder Tourist wird angehalten, doch bitte zu jeder Zeit seinen Reisepass zur Hand zu haben und jeder Polizist wirkt irgendwie nervös. Ich merke schon nach einigen Stunden, dass es wohl nicht ohne weiteres möglich sein wird, die prollige Militärparade mit eigenen Augen zu sehen. Kleine Übungsparaden kann man aber an jeder Straßenecke im Zentrum der Stadt begutachten. Am Platz des Himmlischen Friedens muss man aufpassen, nicht übermarschiert zu werden. Die Formationen tauchen völlig unvermittelt und lautlos hinter einem auf. KREISCH!

...leider noch ohne Stechschritt

Angekommen in meinem Quartier, bestätigt sich auch sogleich meine Vermutung: Kein Paradegucken am Geburtstag, kein ausgelassenes und harmonisches Feiern in der Verbotenen Stadt. Stattdessen Regristierung meiner Daten auf der nächsten Polizeiwache und Quasi-Hausarrest. Das ganze wird ja auch im Fernsehen übertragen, hört man allenthalben. Vielleicht sollte man das Schanzenfest in Zukunft auch einfach im Fernsehen übertragen.

Egal. Am Abend des 1. Oktober, also nach den offiziellen Feierlichkeiten, sitze ich mit einer Freundin aus Deutschland vor einem Hutong-Kiosk und trinke Bier. Etwas später kommen zwei nette Parteischergen des Weges und fühlen sich berufen, uns aus unserem Kioskelend zu befreien und uns zum Essen einzuladen. Die beiden sind von der ganzen Feierei noch patriotisch aufgeladen - sie tragen kleine Parteiabzeichen am Revers und wollen uns auch noch einen schönen Geburtstag bereiten. Gemeinsam mit ihnen finden wir uns also in einem Straßenkneipenrestaurant wieder. Sofort wird aufgetafelt. Bier und Fleischspieße. Und, wenn ich das richtig verstanden habe, Lunge vom Schwein. Ablehnen ist nicht, also rein damit. Soviel Bier kann ich gar nicht hinterher kippen, so ekelig wie das schmeckt - und die beiden Gastgeber haben sich aufs Zusehen beschränkt und rühren die Speisen nicht an.

Nach einigen Bieren möchte ich mich gerne revanchieren. Heimlich gehe ich ins Restaurant und kaufe 4 Bier, die ich dann einfach auf den Tisch stelle. Das kränkt die beiden unheimlich. Verletzt in ihrem Stolz als Gastgeber stopfen sie mir fast schon agressiv Geld in die Hosentaschen. Setzt man sich also an einen chinesischen Tisch, auf keinen Fall das Portemonaie zücken. Das hat was Beleidigendes. Um nicht vollständig mein Gesicht zu verlieren, probiere ich nochmal aus dem Lungentopf.

Li Bing und sein Buddy diskutieren meinen Fauxpas

Die Parade ist also gelaufen und ich habe nichts davon gesehen. Nicht schlimm, denn nun werden auf den öffentlichen Bildschirmen und in den U-Bahnen die Highlights gezeigt. Zackiges Marschieren, alte Herren auf einem Balkon und allerlei Kriegsgerät. Der militärische Pomp steht irgendwie in einem krassen Kontrast zu dem Leben, das sich auf den Straßen und in den Kneipen abspielt. Hier sind alle ausgelassen und so gar nicht zackig drauf. Tagsüber tummelt sich illustres Volk auf den Straßen. Nachts kann man originellen Hauptstadtrock hören oder das Tanzbein schwingen. In dieser Parallelwelt sucht man maoistische Einheitstracht und militärischen Drill vergeblich.

Pekinger It-Girls mit Hund

Am Tag meiner Abreise besteige ich wieder mit (gefühlten) Millionen anderen Provinzlern einen Zug. Alle sind beladen mit riesigen Einkaufstüten und guter Stimmung. Ich nicht. Habe einen Kater und bin genervt von Kindern, die mich auffordern, mit ihren überdimensionierten Spiderman-Actionfiguren zu spielen. Sowas hatte ich früher nicht, verfluchte Wohlstandsgören.



Montag, 28. September 2009
Anekdoten
Ärzte im Praktikum

Neuerdings tragen die Pförtner, die das Schultor bewachen, strahlend weiße Kittel. Sie sind nun nicht mehr nur Herren über das Rolltor, sie sind auch Ärzte, ausgestattet mit einem Fieberthermometer. Damit nehmen und dokumentieren sie die Körpertemperatur eines jeden, der das Schulgelände betritt. Das geht ganz flott. Das Gerät wird nur kurz vor die Stirn des zu Testenden gehalten und schon erscheint auf einem kleinen Display die Temperatur. Schweinegrippe grassiert. Panik herrscht. Andere Schulen wurden bereits geschlossen. Auch tragen viele in diesen Tagen einen Mundschutz, gerne über das ganze Gesicht gezogen. An mir geht der ganze Grippehype irgendwie vorüber - bekomme von der Hysterie nur wenig mit. Die Zeitungen kann ich nicht lesen und den anderen Ausländern ist das alles egal. Also wird auch nicht drüber geredet. Außerdem bin ich wohl nach wie vor schweinegrippefrei, denn bisher durfte ich das Tor noch jedes Mal passieren.


Schlägerei, Ehestreit, Unfall

Kürzlich kam es direkt vor dem Schultor zu einer Schlägerei. Offen ausgetragede Agressionen sind in China eigentlich selten, aber manchmal platz wohl jedem mal der Kragen. Es gingen jedenfalls zwei Männer mit Fäusten aufeinander los. Das bemerkenswerte an dieser Geschichte ist allerdings nicht so sehr die Schlägerei als solche, sondern vielmehr das Verhalten der Passanten. Völlig unverblümt bleiben sie stehen und gucken sich das Spektakel an. Auch die Bus- und Taxifahrer auf der stark befahrenen Straße hielten einfach an, um sich die Auseinandersetzung anzuschauen. Sie lösten dabei einen Stau aus.

Ähnliches konnte ich bei einem Ehestreit beobachten. Eine laut ausgetragende Pöbelei auf einem Supermarktparkplatz. Alle blieben stehen und hörten sich das Geschrei an. Den Streitenden ist das offenbar egal. Ich habe den Eindruck, je mehr Publikum sie bekommen, desto lauter werden sie. Irgendwann rennen die beiden wutentbrannt auseinander und die Leute gehen weiter ihrer Wege - ob sie das eben Gehörte noch diskutieren, kann ich natürlich nicht sagen.

Auch konnte ich dieses Verhalten vor kurzem in Zusammenhang mit einem Autounfall beobachten. Soweit ich das überschauen konnte, gab es keine Verletzten aber beträchtlichen Sachschaden. Wieder das gleiche Bild. Der Ort des Geschehens wird sofort von Schaulustigen umringt. Sie schauen sich die streitenden Fahrer an, die gerade dabei sind, die Schuldfrage zu klären. Die beiden lassen sich von der Menge aber überhaupt nicht beeindrcken. Auch hier wird ein beträchtliches Verkehrschaos durch das Publikum verursacht.

Mann kann hier seine voyeuristischen Neigungen (Neugier) also voll ausleben - schließlich steckt doch in jedem von uns ein Gaffer, oder?

knipswütig

Auf meiner Wanderung durch den Changbai Shan wurde ich von einer Chinesin namens Queen begleitet. Bis zum atemberaubend schönen Himmlischen See war sie noch bester Laune. Nach ein paar Fotos stellte sie allerdings fest, dass ihr Akku für ihre Kamera leer ist. Von da an war der Ausflug für sie gelaufen. Ich habe beobachtet, dass viele Touristen (eigentlich fast alle) die Umgebung dort nur durch ihre Linse wahrnehmen. Sie halten auch nicht kurz inne und lassen die Umgebung auf sich wirken. In Pose werfen, Foto machen und sofort weiter zum nächsten Hotspot. Irgendwann sagte ich zu Queen, dass sie doch auch so den herrlichen Ausblick genießen könne. Sie schnaubte nur verächtlich.
Ihrer Meinung nach, ist meine Kamera von minderer Qualität. Also war mein Angebot, sie in den für meine Begriffe merkwürdigen Posen vor den Sehenswürdigkeiten zu knipsen und ihr die Fotos später zu schicken in ihren Augen zwar gut gemeint, aber ihren Tag retten konnte es auch nicht.



Freitag, 25. September 2009
Himmlische Gesänge am Himmlischen See
Trekking im Changbai Shan ist ein echtes Erlebnis. Zu bestaunen gibt es einen Himmlischen See, einen Wasserfall, heiße Thermalquellen und hübsche Birken- und Kiefernwälder, außerdem einen Blick auf Nordkorea, dem Reich des legendär bösen Kim Jong-Ill. Alles nett herausgeputzt und leicht zugänglich gemacht für die stetig anwachsenden Touristenströme.

Das eigentliche Highlight für mich war allerdings nicht der Park, sondern die Teilnahme an einem Camp zusammen mit einer chinesichen Reisegruppe. In die Fänge dieser Gruppe geriet ich durch die nette Hostelinhaberein, die wohl Mitleid mit mir alleinreisenden Alien hatte. Sie trug mich einfach in die Teilnehmerliste ein.

Ich wurde also angehalten, mich nach dem Parkbesuch um halb 5 am Ausgang einzufinden. Dort stand dann auch schon ein Kleinbus bereit, in dem die anderen Campteilnehmer bereits auf mich warteten. Die Gruppe war sichtlich erfreut, als ich den Bus betrat. Sofort wurde mir Hühnchen aus der Tube (!) und Obst angeboten. Sehr nett alles. Zum Glück waren unter ihnen auch einige Hong Kong-Chinesen. Die können zumeist ein paar Brocken Englisch, ihnen stand ich dadurch nicht völlig sprachlos gegenüber. Auch übersetzen sie meine 'Unterhaltungen' mit dem Rest der Crew.

Nach kurzer Fahrt erreichten wir das Camp. Es liegt mitten im Wald und besteht aus einigen Sitzgelegenheiten, einer Feuerstelle und einem runtergekommenen Bus, der als Lager und Schlafplatz für ca. 15 Leute dient. Betrieben wird das Camp von ein paar Männern, die schon eifrig dabei waren, alles herzurichten. Sie gehören der koreanischen Minderheit an, die in dieser Region recht stark vertreten ist. Oft handelt es sich um Flüchtlinge aus dem jenseits des Changbai Shan gelegenen Reich der Finsternis. Die Jungs hatten das Feuer schon am laufen und bereiteten ein koreanisches Barbeque und einen Hotpot vor. In einem Hotpot wird ein Sud erhitzt, in den dann allerlei Zutaten geschmissen werden. In diesem Fall verschiedene Gemüse, Hühnerhälse, Fischbällchen, Glasnudeln und viele Pilze. Lecker alles. Dazu wird jede Menge Bier gereicht.

Nach dem Essen ging es zum gemütlichen Teil über. Lieder singen. Als erstes die chinesische Nationalhymne. Die Gruppe brachte mir geduldig einige Textzeilen bei. Ich blieb beim Mitsummen. In China kennt jeder die Nationalhymne. Warum das so ist, davon kann ich jeden Montag in der Schule überzeugen.

Dann wurde ich aufgefordert, meinerseits die Hymne meines Landes zum besten zu geben. Ich überlegte kurz, ob ich aufgrund der Textsicherheit unsere Hymne durch das Werderlied ersetzen sollte. Dummerweise entschied ich mich dagegen. Nach der ersten Strophe geriet ich ins Stocken und wusste nicht mehr weiter. Völlig unverständlich für die durch und durch patriotischen Chinesen. Sie runzeln die Stirn. Einer sagt 'You are a bad citizen'. Ich solle doch dann wenigstens anderes deutsches Liedgut vortragen. Ich bat erstmal um Bedenkzeit. Irgendwie fiel mir nichts ein. In der Zwischenzeit folgten noch einige chinesische Volkslieder. Unglaublich. Alle können mitsingen. Ich summe mit und überlege krampfhaft.

Nun war es wieder soweit, ich war an der Reihe. Alle lauschen gespannt als ich 'Eisgekühlter Bommerlunder' anstimme. Wenig Text, eingängige Melodie. Der Song geht auch direkt in chinesische Ohren - Und dass sogar, obwohl er von einem absolutem Antisänger vorgetragen wird. Schon nach zwei Durchgängen singen die ersten mit. In der vierten Runde sind dann fast alle dabei. 'Eingekühler Bommerlunder, Bommerlunder eisgekühlt. Dazu ein belegtes Brot mit Schinken. SCHINKEN! ein belgtes Brot mit Ei. EI!..usw'. Bei den Schinken und Ei Rufen muss ich jedes mal laut auflachen. Ist irgendwie lustig, eine chinesische Reisgruppe dabei zu beobachten, wie sie insbrünstig deutsche Brotbeläge in die Nacht brüllen - und das mitten im Wald. 'Worum geht's in dem Lied', werde ich gefragt. 'Ist ein Volkslied, das jeder kennt', antworte ich. 'Man trinkt gerne Schnaps dazu.'

Um halb 10 ist dann schon schlafenszeit. Am nächsten Morgen steht das nächste Highlight an. Pilze sammeln im Wald. Es gibt viele Pilze in diesem Wald - und jeder Pilz ist für die Gruppe ein willkommenes Fotomotiv. Jeder, aber auch wirklich jeder, muss mit einem gefunden Pilz vor der Kamera posieren. Dadurch zieht sich der Ausflug unheimlich. Ich hab schon bald keine Lust mehr, weil ich als Exot auch ständig mit dem Pilzkorb posieren muss. Nach endlosen Stunden erreichen wir endlich das Camp. Nun werden die Pilze fachmännisch sortiert und geputzt und dann in den Wok geschmissen. Mittagessen. Auch darüber freuen sich alle und machen unendlich viele Fotos. Das Ganze erinnert mich etwas an einen Schülerausflug ins Cloppenburger Museumsdorf. Stockbrot selber backen und essen. Alle achten penibel darauf, dass auch ja ein von ihnen selbst gesammelter Pilz auf dem eigenen Teller landet. Alle anderen schmecken schließlich nur halb so gut.

in den Pilzen

Nach dem Mittagessen ist dann Feierabend für uns und die Vorhut der nächsten Reisegruppe erreicht das Camp. Wir werden mit dem Bus zurück nach Baihe gefahren und jeder geht seines Weges. Abschiednehmen geht hier ziemlich unsentimental vonstatten. Von einigen höre ich noch nicht mal ein einfaches Zai Jian - und dass, obwohl wir am Abend zuvor noch gemeinsam Trinklieder der Toten Hosen geschmettert haben. Andererseits - ein Abschiedsfoto war dann doch noch drin.

meine Mitbewohner im Camp Changbai Shan