Keinraumfahrt
Oh nein, oh nein. Ich hab’s geahnt. Keine Zugtickets für die 13-stündige Nachtzugfahrt von Yan’an nach Peking. Auf jeden Fall nicht im Sitzen und schon gar nicht im Liegen in einem der komfortablen Schlafwagen. Ausverkauft für die komplette nächste Woche. Nur Stehplatzkarten sind drin. Mir bleibt keine Wahl, als einen Höllentrip auf Schienen auf mich zu nehmen.

Wenigstens bin ich nicht alleine. Vor der Abfahrt versammele ich mich mit meinen Leidensgenossen in spe in der Abfahrtshalle. Die Stimmung ist angespannt, jeder will ganz vorne mit dabei sein, wenn die billigen Plätze vergeben werden. So auch ich – schon vor dem Öffnen der Schleuse zum Bahnsteig befinde ich mich in einer wogenden Menge aus schweißnassen Leibern, die ungeduldig die Ankunft des Zuges herbei sehnt. Die Jungen und Alten, die Frauen und Männer wissen, was auf dem Spiel steht: ein unkomfortabler Platz in irgendeiner Ecke, der sich mit ein bisschen Glück sogar als Sitzgelegenheit eignet oder ein ganz und gar unerträglicher Zwischenraum im Niemandsland jenseits aller Ecken und Wände, ohne die Möglichkeit sich irgendwo anzulehnen. Auf der Hut sein, ist also angesagt und auch nachdrücklicher Ellbogeneinsatz.

Der Zug trifft ein, die Türen öffnen sich. Wie Vieh werden wir in die bereits übervollen Waggons gedrängt (Yan’an ist nur eine Zwischenstation), hilflos, passiv und völlig ausgeliefert zwischen die anderen Passagiere gequetscht. Als ich irgendwo zwischen zwei Waggons zum Stehen komme, blicke ich mich um und kann kaum fassen, dass so der Alltag für die Mehrheit der Reisenden in China aussieht: Stehend, kauernd, in den Ecken hängend, sich an ihr Gepäck klammernd – so harren sie aus auf den Zugfahrten, die sie in vielen Stunden an ihr Ziel führen. Erschwerend hinzukommt, dass die Massen ständig in Bewegung sind. Unentwegt drängen weitere Menschen schnaufend und schwitzend durch die Waggons auf der verzweifelten Suche nach etwas Raum zum Atmen.

Als der Zug einige Minuten rollt, wird es ruhiger. Aber nur etwas. Denn zu meinem Entsetzen stelle ich fest, dass ich in unmittelbarer Nähe zum Heißwasserspender stehe. Für viele meiner Mitreisenden ist offenbar keine Anstrengung zu groß, um sich Tee oder Nudeln aufzugießen. Ächzend zwängen sie sich mit ihren Instantnudelgefäßen und/oder Isolierbechern zum rettenden Automaten. Dabei verspritzen sie stets kochend heißes Wasser auf meinen Nebenmann, der dies jedes Mal mit einem düsteren Knurren quittiert, sonst aber weiter nichts unternimmt. Auf ihrem Rückweg besudeln sie mich mit fettiger Nudelpampe. Auch ich unternehme nichts.

Allerdings frage ich mich doch, wieso hier nicht mal jemand ernsthaft wütend wird und hässlich durchdreht, denn zu ertragen sind diese Art Zugreisen nur schwer. Auf jeden Fall für mich. Der Gleichmut, mit dem meine Mitpassagiere die Tortur ertragen, ist bemerkenswert. Ich vermute, das hängt mit der Sozialisation der Menschen im Milliardenland China zusammen. Viele kennen das, was wir Privatsphäre nennen nicht wirklich. In der Familie, in der Schule, in der Uni – Zeit ihres Lebens teilen sich die meisten Menschen ihren Lebensraum mit vielen anderen. Von Zuhause bis in die überfüllten Schlafsäle der Bildungsanstalten: Von wegen eigenes Zimmer, Teilen ist angesagt. Dadurch erhält das Bedürfnis nach Raum eine ganze andere Wertigkeit.

Platzmangel

Vieles, was meine Geduld empfindlich strapaziert, wird hier einfach ausgehalten. Einige diskutieren in einer Wahnsinnslautstärke über dies und das, während zu ihren Füßen nervenstarke Mütter ihre schlafenden Kinder auf dem Arm halten. Wieder andere verwandeln ihre Umgebung binnen kürzester Zeit in eine Müllkippe, was von den Umstehenden stoisch ertragen wird. Ich hingegen schwitze vor Hitze und Platzangst und bin wütend auf diejenigen, die die Züge so hoffnungslos überbuchen. Doch Wut und Angst sind diffus und können sich vor Ort gegen niemanden konkret richten. Diese Art negativer Gefühle sind hier eindeutig nicht zu gebrauchen und so versuche ich mich so gut es geht dem Gleichmut anzupassen.

Einige meiner Mitreisenden sind mittlerweile sogar bester Dinge und blicken voller Zuversicht dem Ziel entgegen, auch wenn das noch in weiter Ferne liegt. Na ja, relativ weit. ‚Wie lange ist es noch bis Peking?’ ‚Neun Stunden’, lautet die freudige Antwort, der ein ‚Jetzt haben wir es ja bald geschafft’ mitschwingt. Neun Stunden sind für mich eindeutig neun Stunden zuviel, eine Wahl habe ich aber nicht.

Also beginne ich, meine relativ lange Restreisezeit
damit zu verbringen, mich über die Verkäufer kleiner Snacks und Getränke aufzuregen, die den Vogel spektakulär abschießen: Mit metallenen Wägelchen, die sie unter größter Kraftanstrengung die Gänge entlang wuchten, scheuchen sie die Siechenden hoch und preisen dabei lautstark ihre Produkte. Erschrocken vom Gebrülle und Geklapper schrecken die Reisenden dann schläfrig hoch. Anstatt die Verkäufer, die auch nicht wirklich zu beneiden sind, zum Teufel zu jagen, decken sich viele mit Snacks und Getränken ein. Ich habe zwar Durst, kaufe aber nichts, aus Gereiztheit und Angst später zur Toilette zu müssen.

Die Zeit vergeht schleppend. Irgendwann gelingt es mir, meinen Rucksack so gegen eine Wand zu bugsieren, dass er zur Sitzgelegenheit taugt. Das ist einigermaßen bequem, hält aber nur bis zum nächsten Stopp. In den Waggon zwängt sich unter anderem ein unfassbar aufdringlicher Typ, der es offenbar lustig findet, ohne Unterlass auf mich einzureden. Ich bin zu müde, um mich zu wehren. Ohne zu fragen wieselt er sich auch noch mit auf meinen Rucksack, meine Burg, und beginnt mir unangenehm auf die Pelle zu rücken. Das ist genug, ich kann ich nicht mehr. Wie ein Zombie erhebe ich mich, um mich nur ein paar Meter weiter dorthin zu begeben, wo nur der Abschaum steht: Die Raucher. Mit ausdruckslosen Gesichtern stehen sie da und qualmen ohne Unterlass. Ich ahne, dass genau dies mein Schicksal sein wird für die nächsten Stunden.

Die Zeit vergeht weiter schleppend. Ich beobachte meinen Rucksack samt Besatzung. Die Nervensäge ist noch immer da, der Platz neben ihm inzwischen neu besetzt. Soweit, so beruhigend. Aus der Entfernung beginnt mich der aufdringliche Typ zu interessieren. Irgendwas hat an sich, das auch andere nervt. Er sabbelt ununterbrochen und wirkt ziemlich nervös. Auch scheint er wahnsinnig neugierig, ständig richtet er bohrende Fragen an alle möglichen Umstehenden, die nur einsilbig antworten.

Plötzlich kommt eine Frau, beladen mit Peking-Stadtkarten, den Gang entlang. Eine für fünf Yuan (60 Cent). Die Nervensäge springt sofort auf und kauft eine, um sich sogleich wieder zu setzen und das mehrere Quadratmeter große Ungetüm aufwändig vor sich auszubreiten. Konzentriert studiert er das Stadtgebiet und ringt um Orientierung. Schnell wird klar, er braucht Hilfe. Schon jetzt, obwohl ihn noch mehrere Stunden Fahrzeit in diesem Horrorzug von seinem Ziel trennen. Unmittelbar vor ihm findet er eine ortskundige Frau, die ihm auf seiner Reise mit dem Daumennagel unterstützt.

Langsam begreife ich: Er ist so aufgeregt und redefreudig, weil er zum ersten Mal in die große Stadt kommt. Die Nervensäge ein Glücksritter, der sich aufmacht, die große Stadt zu erobern?

Als ich ihn so beobachte, wächst meine Anerkennung und ein schlechtes Gewissen, weil ich so überstürzt von ihm weg bin. Seine mangelnde Rücksichtnahme auf mich interpretiere ich nun als das Bedürfnis nach etwas Halt in dieser ihm völlig fremden Welt. Im einzigen Ausländer hat er wohl so etwas wie einen Gefährten gesehen. Einen Freund, der genauso orientierungslos ist wie er selbst.

Ich beschließe, mir den Platz neben ihm auf meinem Rucksack zurückzuerkämpfen. Geraucht habe ich sowieso schon zuviel und stehen kann ich auch nicht mehr. Der Glücksritter freut sich. Meine Solidarität bringe ich mit meinem Englisch/Chinesisch Wörter- und Phrasenbuch zum Ausdruck. Für den Rest der Fahrt üben wir gemeinsam eine Fremdsprache, die uns in der großen Stadt unter Umständen zum Vorteil gereicht. Meine Hoffnung nach ein wenig Schlaf und Ruhe habe ich aufgegeben – und siehe da – die Welt sieht schon wieder viel bunter aus. Zeit und Raum sind relativ und wie Laozi, der große chinesischer Philosoph und Lebenskünstler, schon vor mehr als 2.500 Jahren postuliert hat, ist es müßig, sich dem Unausweichlichen entgegen zu stemmen. Das kostet nur unnötig Kraft und bringt einen auch nicht schneller ans Ziel. Es gelingt mir sogar, zusammen mit meinem neuen Freund, den Rest der Zeit zu genießen. Allerdings hat es ein paar Stunden und eine vermeintliche Nerversäge gebraucht, um zu erkennen, dass auch eine Zugfahrt relativ ist und irgendwann endet.

Zweiklassenzuggesellschaft - diese Passagiere haben einen Sitzplatz