Abgefüllt in Yan'an
In Yan’an endete Maos Langer Marsch. Nachdem er die Macht der Roten Armee im subtropischen Zunyi 1.500 Kilometer südlich übernommen hatte, das heute ein Wallfahrtsort für Chinas rote Touristen ist, führte er die Seinen unter großen Anstrengungen über steile Bergkämme, reißende Flüsse und durch endlose Ebenen ziellos umher. Immer nordwärts auf der Flucht vor Hunger und unerbittlichen Feinden. Endlich, nach inzwischen über einem Jahr der Wanderschaft, errichtete er dann seine Kommandozentrale in der staubtrockenen Provinz Shaanxi. Versteckt in Höhlen hauste hier das Politbüro der Kommunistischen Partei Chinas in der Nähe der Kleinstadt Yan'an und harrte ihrer Chance.

Meine Chance in Yan’an kommt schnell. In Form eines netten Mädels, das ihre Englischkenntnisse aufpolieren möchte und froh ist, endlich mal einem Ausländer ihre Stadt zu zeigen.

Zügig beginnen wir mit dem Programm, die Zeit ist schließlich knapp. Sie wundert sich, weshalb ich mich so für Mao und seine Höhlen interessiere, Ich versuche ihr mein Anliegen zu erklären; meinen Versuch, zu verstehen, wie das moderne China die so offensichtlichen Widersprüche zwischen den Kollektivierungen vergangener Tage und der heutigen Konsumgeilheit für sich löst. Das alles lässt sie kalt, sie hört nicht mal richtig zu. Ihr Name ist im übrigen Fen. Alles, was sie dazu sagt, ist, dass die Bürger Yan’ans sich glücklich schätzen können, hier zu leben. China pflege sein Andenken und so fließe viel Geld in die Stadt für den Erhalt und die Verwaltung der Sehenswürdigkeiten. Das führe dazu, dass die Bewohner wenig zu tun haben aber immer flüssig sind. Jeden Abend tanzen sie in den Straßen (die Alten) und gehen shoppen (die Jungen). Und tatsächlich: Es ist früher Abend und überall frohlockende Menschen.

Für einen ersten Eindruck klettern wir zum Sonnuntergang auf den Qianling-Shan, einem Berg mit taoistischen und buddhistischen Tempeln, von dem aus man die ganze Stadt überblicken kann. Ein herrlicher Ausblick. Dennoch fange ich wieder an zu nerven und frage Fen, ob die heiligen Stätten während Maos Aufenthalt in Yan’an Schaden genommen hätten. Schließlich hat der keine anderen Götter neben sich geduldet. Sie tut die Frage fröhlich ab und ich frage mich, ob ich diese ganze Maosache nicht ein wenig zu ernst nehme, als sie sagt, dass das eben die Vergangenheit sei. Und die ist ja nun vorbei. Ich beschließe, meinen Blick nur noch auf die Gegenwart zu richten. Zum Beispiel auf die wunderschöne Natur der Umgebung.

Yanan

Wir beginnen mit dem Abstieg. Auf dem Weg nach unten fragt Fen unentwegt, was für eine Spezialität ihrer Heimatstadt ich als erstes probieren möchte. Mir ist das egal, schließlich bin ich noch nie in den Genuss jedweder Köstlichkeit der Region gelangt. Fürs erste klingen Nudeln ganz gut. Wir betreten ein kleines Restaurant, meine Begleitung bestellt lautstark. Aber nur für mich, sie muss auf ihre Figur achten, sagt sie. Mampfend sitze ich vor ihr und fühle mich seltsam beobachtet – bei jedem Happen will sie wissen, wie es mir schmeckt. Wirklich gut. Gerade lege ich die Stäbchen weg, schon geht es weiter. Bezahlen? Ist schon erledigt.

Wir laufen durch die Stadt. Vorbei an tanzenden Alten und shoppenden Jungen. Gerne würde ich das alles etwas länger auf mich wirken lassen, doch Fen ist nur um mein leibliches Wohl besorgt und fragt, was ich denn als nächstes essen wolle. Ein bisschen hier stehen und gucken und später noch was essen vielleicht? ‚Gut’, sagt sie, ‚aber nur kurz.’ Als wir so dastehen, merke ich, dass sie etwas betimmtes vorhat. Und tatsächlich. Nach wenigen Minuten sagt sie, sie würde mich gerne in das Restaurant ihrer Mutter mitnehmen. Allerdings dürfe ich nicht lachen. Um Himmels Willen, warum sollte ich denn lachen? Sie sagt, ihre Familie habe nicht viel Geld und das würde man dem Restaurant auch ansehen. Ihre Mutter macht aber die leckersten Spieße der Welt. Ich liebe Essen auf Spießen, also nichts wie hin.

Durch schmale, unbeleuchtete und unbefestigte Gassen erreichen wir schließlich das Haus der Familie. Davor sitzen Dutzende Menschen, die mich allesamt verwundert anstarren. Wo kommt der denn her, was will der hier? Ich beantworte alle Fragen so gut ich kann und werde wohlwollend aufgenommen.

Essenszeit. Auf kleinen Holzkohleöfen stehen Bottiche mit scharfem, siedendem Sud, in denen dann die Spieße gegart werden. Wie um ein Lagerfeuer herum sitze ich mit Familie und Freunden und höre mir gestenreiche Erklärungen an, wie man die Delikatessen korrekt zubereitet. Die erste Lage, ungefähr 30 Spieße, ist bestückt mit Tofu, Kohl, Hammelfleisch und Paprikaschoten. Dazu jede Menge Bier. Lecker – nur bin ich der einzige, der isst. Alle anderen schauen mich interessiert an.

Mama Fen bringt mehr Spieße. Ich kann nicht mehr, bringe es aber nicht fertig abzulehnen. Die alte Dame steht erwartungsfroh lachend vor mir und überreicht mir die nächsten Spieße wie einen Strauß Blumen. Also rein damit. Alles andere wäre eine Respektlosigkeit der Köchin gegenüber, die, wie ich erfahre, fünf Kinder mit diesem Imbiss durchgebracht hat. Eines von ihnen, Fen, konnte sogar im fernen Qingdao studieren.

Als ich den letzten Bissen mit einem großen Schluck Bier runtergespült habe, erfahre ich, dass meine liebe Reiseleitung allen ernstes vorhat, die kulinarische Tour de Force noch weiter auszudehnen. Ich bin so gerührt von der Gastfreundschaft und zu satt, als dass ich Widerspruch einlegen könnte. Also verlassen wir die freundliche Runde zum Nachtmarkt der Stadt. Hier treffen wir Fens Freunde. Alle sehr nett, alle sehr trinkfreudig. Nach alter Väter Sitte, muss ich erstmal mit jedem der Anwesenden Jungs einen trinken. Sieben kleine Biere in wenigen Augenblicken. Ich fühle mich, als seien meine Eingeweide verstopft. Das Bier kann nicht abfließen und steht mir bis zum Hals.

Dennoch wird ohne Umschweife die letzte Köstlichkeit des Abend gereicht: Schweinefüße in einem Fond aus, man höre und staune, Ziegenkotze. Mehrfach habe ich nachgefragt, ob ich richtig gehört habe, mehrfach wurde bestätigt, dass es sich tatsächlich um Ziegenkotze handele. Wie die Rohmasse in großem Stil gewonnen wird, konnte mir keiner sagen. Feststeht nur eins: Das Zeug schmeckt grauenhaft. Zum Glück gibt’s Bier dazu. Ich schaffe nur ein paar Bissen, dann gebe ich auf. Kein Essen mehr heute Abend.

Dafür trinken. Der gemütliche Teil des Abends sieht ein beliebtes chinesisches Trinkspiel vor. Die abgespeckte Version, die auch ein Ausländer begreifen kann, ist wirklich sehr leicht: Zwei Würfelbecher, 6 Würfel. Die jeweils niedrigere Augenzahl muss einen Trinken. Zack, zack geht das. Mein Zustand verschlechtert sich, der meiner Mitspieler auch. Alle haben puterrote Gesichter und lallen wüst durcheinander. Das geht noch ein paar Stunden so, Fen ist offensichtlich zufrieden mit ihrer Arbeit als Reiseleiterin. Zu Recht.

da ging es noch ganz gut

Und doch bin ich am nächsten Tag krank. Derart fertig, dass ich mich kaum bewegen kann, geschweige denn, mein Hotelzimmer zu verlassen. Waren es die Spieße? Das Bier? Der Schnaps? Oder gar die Ziegenkotze? Wahrscheinlich von allem zuviel. Krank von überwältigender Gastfreundschaft.

Ob Mao seine Gäste auch derart üppig empfangen hat und sich dann so rührend kümmerte wie meine neuen Freunde um mich? Die kommen am Nachmittag im Hotel vorbei und bringen mir warme Milch und zwei hartgekochte Eier. Das sei gut in meinem Zustand. Dankend nehme ich an, lasse das Katerfrühstück dann aber dezent verschwinden.