Parallelwelt
60 Jahre China - voller Vofreude habe ich zusammen mit (gefühlten) Millionen anderen Provinzlern einen Zug bestiegen, um mit ihnen gemeinsam den Geburtstag ihres Landes am 01. Oktober zu begehen. Schon auf dem Bahnhof wird man von Propagandaspruchbändern aufgefordert, inbrünstig und harmonisch zu feiern.
Am Vortag des Großereignisses schwankt die Stimmung zwischen erwartungsfrohem Gespanntsein, heiterer Glückseligkeit und überbordenem Nationalstolz - das ganze befeuert durch allgegenwärtige Großbildschirme, die die glorreiche Geschichte des Landes auf die Passanten niederprasseln lassen.

Das offizielle China ist offenbar eher angespannt. Nichts soll die Geburtstagsfeier stören. Überall Polizei und Militär. Jede Tasche wird gescannt, sobald man eine U-Bahn nutzen möchte. Jeder Tourist wird angehalten, doch bitte zu jeder Zeit seinen Reisepass zur Hand zu haben und jeder Polizist wirkt irgendwie nervös. Ich merke schon nach einigen Stunden, dass es wohl nicht ohne weiteres möglich sein wird, die prollige Militärparade mit eigenen Augen zu sehen. Kleine Übungsparaden kann man aber an jeder Straßenecke im Zentrum der Stadt begutachten. Am Platz des Himmlischen Friedens muss man aufpassen, nicht übermarschiert zu werden. Die Formationen tauchen völlig unvermittelt und lautlos hinter einem auf. KREISCH!

...leider noch ohne Stechschritt

Angekommen in meinem Quartier, bestätigt sich auch sogleich meine Vermutung: Kein Paradegucken am Geburtstag, kein ausgelassenes und harmonisches Feiern in der Verbotenen Stadt. Stattdessen Regristierung meiner Daten auf der nächsten Polizeiwache und Quasi-Hausarrest. Das ganze wird ja auch im Fernsehen übertragen, hört man allenthalben. Vielleicht sollte man das Schanzenfest in Zukunft auch einfach im Fernsehen übertragen.

Egal. Am Abend des 1. Oktober, also nach den offiziellen Feierlichkeiten, sitze ich mit einer Freundin aus Deutschland vor einem Hutong-Kiosk und trinke Bier. Etwas später kommen zwei nette Parteischergen des Weges und fühlen sich berufen, uns aus unserem Kioskelend zu befreien und uns zum Essen einzuladen. Die beiden sind von der ganzen Feierei noch patriotisch aufgeladen - sie tragen kleine Parteiabzeichen am Revers und wollen uns auch noch einen schönen Geburtstag bereiten. Gemeinsam mit ihnen finden wir uns also in einem Straßenkneipenrestaurant wieder. Sofort wird aufgetafelt. Bier und Fleischspieße. Und, wenn ich das richtig verstanden habe, Lunge vom Schwein. Ablehnen ist nicht, also rein damit. Soviel Bier kann ich gar nicht hinterher kippen, so ekelig wie das schmeckt - und die beiden Gastgeber haben sich aufs Zusehen beschränkt und rühren die Speisen nicht an.

Nach einigen Bieren möchte ich mich gerne revanchieren. Heimlich gehe ich ins Restaurant und kaufe 4 Bier, die ich dann einfach auf den Tisch stelle. Das kränkt die beiden unheimlich. Verletzt in ihrem Stolz als Gastgeber stopfen sie mir fast schon agressiv Geld in die Hosentaschen. Setzt man sich also an einen chinesischen Tisch, auf keinen Fall das Portemonaie zücken. Das hat was Beleidigendes. Um nicht vollständig mein Gesicht zu verlieren, probiere ich nochmal aus dem Lungentopf.

Li Bing und sein Buddy diskutieren meinen Fauxpas

Die Parade ist also gelaufen und ich habe nichts davon gesehen. Nicht schlimm, denn nun werden auf den öffentlichen Bildschirmen und in den U-Bahnen die Highlights gezeigt. Zackiges Marschieren, alte Herren auf einem Balkon und allerlei Kriegsgerät. Der militärische Pomp steht irgendwie in einem krassen Kontrast zu dem Leben, das sich auf den Straßen und in den Kneipen abspielt. Hier sind alle ausgelassen und so gar nicht zackig drauf. Tagsüber tummelt sich illustres Volk auf den Straßen. Nachts kann man originellen Hauptstadtrock hören oder das Tanzbein schwingen. In dieser Parallelwelt sucht man maoistische Einheitstracht und militärischen Drill vergeblich.

Pekinger It-Girls mit Hund

Am Tag meiner Abreise besteige ich wieder mit (gefühlten) Millionen anderen Provinzlern einen Zug. Alle sind beladen mit riesigen Einkaufstüten und guter Stimmung. Ich nicht. Habe einen Kater und bin genervt von Kindern, die mich auffordern, mit ihren überdimensionierten Spiderman-Actionfiguren zu spielen. Sowas hatte ich früher nicht, verfluchte Wohlstandsgören.




monty freeman am 07.Okt 09  |  Permalink
And the Pulitzer goes to...
YOU! Mann, bin ich stolz auf Dich! Fantastisch!!!

http://www.spiegel.de/unispiegel/jobundberuf/0,1518,653581,00.html

Weiter so!

Malte

jan kammann am 07.Okt 09  |  Permalink
some call it...
sellout. Aber vielen Dank für die Blumen. Ich bin auch stolz auf Dich.

pfitzner am 09.Okt 09  |  Permalink
Alter wasn bei dir los...
Na Keule, dein alter Herr hat erstmal deinen Blog und die Spiegelgeschichte verbreitet...

Wie isses überhaupt zu dieser Spiegelsache gekommen und bekommst auch wenigstens fleißig Kohle für den "Sellout"?

jan kammann am 09.Okt 09  |  Permalink
...
...genau das mein ich mit Sellout. Aber egal, ich geh jetzt erstmal zu Golden Hans.

'Ozoapft is!

Cheers Jan