Chongqing - Punk as Fuck
Die Stadt ist unmöglich. Das Klima heiß und schwül im Sommer, im Winter kühl und feucht. Die Landschaft hügelig zerklüftet, zerschnitten von zwei großen Strömen, dem Yangtze und dem Jialing-Fluss. Und trotzdem ist hier eines der größten urbanen Siedlungsgebiete der Welt entstanden. Als Besucher mit Blick auf das endlose Häusermeer, den Lärm der Stadt in den Ohren und die Nase voller Smog und Staub, fühle ich mich klein und unbedeutend.

Ich frage mich, wie das alles geht? Woher kommt das Baumaterial, woher die Arbeiter, die auf den unzähligen Baustellen Tag und Nacht schuften? Wie versorgt sich die Stadt und woher kommen all die Menschen, die in den gesichtslosen Silos wohnen und wohnen werden? Alles muss mit unfassbaren Anstrengungen verbunden sein, abzulesen in den Gesichtern der Elenden, die tagein, tagaus schwerste Lasten die steilen Straßen der Stadt hinaufschleppen.

Haeusermeer Chongqing

Und doch herrscht in Chongqing ein besonderer Geist, irgendwie trotzig. Als wollte es sagen, ist mir egal, wie schwierig alles ist, ich mach’ es trotzdem.

Ein Erklärungsversuch: Zwischen 1939 und 1942 wurden während der japanischen Besatzung mehr Bomben über Chongqing abgeworfen als über Dresden während des zweiten Weltkriegs. Heute ist davon nichts mehr zu sehen. Auch während der großen Kampagnen Mao Zedongs, dem Großen Sprung nach vorn und der Kulturrevolution, hatte die Stadt nichts zu lachen. Nichts wurde restauriert oder instand gesetzt. Heute ist alles neu, alles größer, höher, besser. Und genau das ist der Unterschied zwischen Europa und China. Auf jeden Fall einem freundlichen Iren zufolge, den ich in einem runtergerockten Punkschuppen treffe. Die Radikalität, mit der China sich neu erfindet, ist in der Weltgeschichte einmalig – und besonders radikal ist im Moment die unmögliche Stadt Chongqing.

Dillan, der freundliche Ire, Chinaveteran und Desperadeo schwärmt vom Leben hier und seinen Möglichkeiten. Verschiedenes hat er schon ausprobiert, jetzt macht er in Whiskey. Er meint, Chinesen entwickeln einen immer ausgeprägteren Geschmack für die guten Dinge im Leben – und Spirituosen aus Irland sollten definitiv dazugehören. Wirklich konkret sind seine Pläne noch nicht, aber er wirkt hoffnungsfroh. Leute wie ihn trifft man in allen chinesischen Großstädten, in Chongqing liegt noch mal eine Extraportion Goldgräberstimmung in der Luft.

schoene Aussichten aus einem gesichtslosen Wohnsilo

Das Publikum im Punkschuppen wird unruhig, auf der Bühne passiert etwas. Der DJ räumt das Feld, die Lokalhelden, übersetzt Die durchgeknallten Seeleute, betreten das Scheinwerferlicht. Jubel brandet auf. Der Sänger ist eine Art chinesischer Pete Doherty. Er ist sternhagelvoll und taumelt schon vor den ersten Akkorden Halt suchend über die Bühne. Trotzdem trifft er jeden Ton. Die Musik ist gut, erinnert irgendwie an Joy Division, die Menge kaum zu halten. Eigentlich könnte die Stimmung besser nicht sein – nur ist der Sänger ziemlich pöbelig drauf. Nach dem ersten Song reißt er sein Hemd auf und beleidigt die Barleute. Das gleiche nach dem nächsten Song. Jetzt reicht es dem Personal: Einer springt über die Bar, stürmt in Richtung Bühne. Der Sänger reagiert sofort. Er lässt sein Mikro fallen und stürzt dem Barmann entgegen. Auf der Tanzfläche treffen beide aufeinander und verknoten sich zu einem Knäuel, treten und schlagen auf sich ein. Eine wüste Schlägerei entbrennt, bis es dem Publikum gelingt, die Rasenden auseinanderzubringen. Für einen Moment stehen beide blutend da. Schweigend. Dann geht der Sänger wieder auf die Bühne, nimmt sein Mikro und macht weiter, als sei nichts gewesen. Seine Band gibt sich unbeeindruckt.

Unglaublich. Nur eine kleine Anekdote, passt als Gleichnis aber zur Stadt: Wenn Du vermöbelt wirst – scheißegal. Mach weiter, solange Du Dich noch auf den Beinen halten kannst. Wird schon werden. irgendwie.