Nervöse Typen
Die Taxifahrer in Changchun sind hypernervös. Immer wieder überraschen sie mit interessanten Manövern – zum Beispiel das Überholen auf dem Bürgersteig. Aus der Perspektive des Beifahrers hat das oft Slapstickcharakter: Die Fahrer geben sich lässig und unbeeindruckt, während sie wild hupend die Fußgänger umkurven. Oft hängt ihnen dabei eine Zigarette im Mundwinkel und aus dem Radio plärren chinesische Schnulzen.

Kommt das Vehikel dann tatsächlich mal vor einer Ampel oder in einem Stau zum Stillstand, ist die Nervosität nicht mehr zu übersehen. Eigentlich könnte man sich in solchen Situationen ja mal entspannt zurücklehnen und durchatmen – nicht so chinesische Taxifahrer. Gaspedal durchdrücken, Motor aufheulen lassen, Kupplung kurz kommen lassen, bremsen. Ab und an Ausbruchsversuche in den Gegenverkehr, die von vornherein zum Scheitern verurteilt sind. Dazu ständiges Hupen. Sowieso scheint es so etwas wie eine Downloadbörse für Huptöne zu geben. Von Schiffshörnern bis zu kurzen Melodien ist alles dabei – Hauptsache laut und auffällig. Übersehen oder überhört zu werden ist offenbar die schlimmste Vorstellung der Taxifahrer. Wenn man die Fahrer so bei der Arbeit beobachtet, drängen sich Rückschlüsse von ihrer Psyche auf den Geisteszustand des ganzen Landes auf. Denn nervös wirken die meisten.

Wie schnell wird man doch abgehaengt...

Auch in der Schule begegnet mir die allgemeine Aufgeregtheit ständig. Besonders deutlich Samstagabends nach Schulschluss. Dann stehen Horden aufgekratzter Eltern vor den Toren und warten auf ihre Sprösslinge. Mit ihren Autos lösen sie dabei jedes Mal ein Verkehrschaos aus. Insbesondere gut betuchte Väter fallen unangenehm durch ihr Imponiergehabe auf, indem sie ihre Schlitten mitten auf der Straße abstellen. Dabei hat derjenige mit dem größten Auto das Recht auf die größten Rücksichtslosigkeiten. Dann stehen sie rauchend herum und warten auf die Stammhalter. Die Mütter tippeln nervös auf den Zehenspitzen herum und spekulieren über den Zaun auf das Schulgelände. Vor ihren Nasen hängen großformatige Listen der Besten der letzten Jahrgänge. Die machen sie nervös. Es wäre nicht zu ertragen, wenn der eigene Spross sich eines fernen Tages nicht auf Platz unter den Top Ten wieder finden würde.

An diese unsichere Nervosität der Eltern appellieren nervöse Lehrer. Ständig werde ich angesprochen von jungen Kollegen, die auch endlich am großen Rad drehen wollen. In China rangieren Lehrer auf der Gehaltsrangliste weit hinten. Um eines fernen Tages die eigenen Kinder mit einem der neuen tollen Autos von der Schule abzuholen, muss man sich also was einfallen lassen. In der Kantine werde ich deshalb, wie alle anderen Ausländer auch, verschwörerisch angesprochen: ‚Pass auf. Wir machen das so: Wir warten dieses Semester ab und dann gründe ich meine eigene Fremdsprachenschule. Dann musst Du bei mir arbeiten. Ich zahl auch besser.’ Wenn man ernsthafte Ambitionen hat, braucht man schließlich irgendeinen Ausländer den man vorzeigen kann. Im Kollegium gehen offenbar Gerüchte, dass auf diese Weise lukrative Geschäfte locken. Kann ich mir gut vorstellen, schließlich haben die Eltern eine Heidenangst, ihr Kind könnte aufgrund mangelhafter Fremdsprachenkenntnisse abgehängt werden.

alles neu - will ich auch haben

Wie die Taxifahrer, die nervös nach dem richtigen Weg suchen, verhalten sich oft auch Kunden in den großen Supermärkten. Ja nicht das richtige Angebot oder das neuste Produkt verpassen. Das ist nicht so einfach, denn täglich werden neue schöne Dinge eingeführt. Um ihrer Orientierungslosigkeit Herr zu werden, richten sich viele Kunden nach der Werbung. Die ist in China oft unfassbar plump. Auf Plakaten halten debil grinsende Menschen dem Betrachter ein Getränk, einen Schokoriegel oder ein Duschgel entgegen. Die reine Masse an Promotion und bunten Bildern, die oft auch noch akustisch untermalt wird, führt zu völliger Reizüberflutung. In den Märkten kann man Szenen beobachten, die ich als Panikkäufe bezeichnen würde – Taxifahrerstyle.

Kaufrausch - im Vordergrund Tubenhuhn