Mittwoch, 5. Mai 2010
Holy Shit
Bereits vor einer ganzen Weile wurde ich in meiner Aliens Chinese School um einen Gefallen gebeten. Little Fish, die Sekretärin der Schule, blieb allerdings nur sehr vage und rückte nicht so richtig raus mit der Sprache, um was es denn eigentlich geht. Ich erfuhr nur, dass es sich um eine Hochzeit ihrer Freunde handelt, bei der die Anwesenheit eines Ausländers gewünscht sei. Ist bestimmt interessant, dachte ich mir und sagte zu.

Ein paar Wochen später, der Hochzeitstermin rückte immer näher, fragte sie dann plötzlich, wie es um meine Frömmigkeit bestellt sei. Ich sagte, dass ich mit der Kirche ungefähr soviel zu tun habe, wie der Papst mit der Aufklärung von Missbrauchsfällen, aber dennoch getauft und konfirmiert bin. Skeptisch zieht sie die Augenbrauen hoch und murmelt ‚Mei Shi, Mei Shi’ (Macht nichts).

Bis dahin habe ich gedacht, es ginge um eine traditionell-chinesische Hochzeit und ich soll als Ausländer für den Hauch Exotik sorgen. Über meine genaue Funktion auf dem Fest hatte ich mir bis dahin keine Gedanken gemacht. Jetzt hieß es plötzlich, das Paar wolle in einer abendländisch-christlichen Zeremonie getraut werden und ich soll in einer Kirche ein paar Worte an das Brautpaar richten.

Eine Woche vor der Hochzeit rief Little Fish dann erneut an und fragte mich, was meine Dienste denn kosten würden. ‚Kosten? Ich betrachte das als eine Art Freundschaftsdienst, dafür nehme ich doch kein Geld’, erkläre ich ihr. Frage sie aber noch, ob Braut oder Bräutigam tatsächlich mit ihr befreundet sind. ‚Nein’, sagt sie jetzt plötzlich, ‚Ich kenne die Leute gar nicht’ und sie wird auf der Hochzeit auch gar nicht da sein. Ich bin verwirrt. Was soll ich auf einer Hochzeit von wildfremden Leuten und vor allem: Was soll ich denen erzählen? Nun erklärt sie, ein Freund von ihr leite eine Art Hochzeitsplanungsagentur. Bei ihm kann man verschiedenste Zeremonien buchen und er organisiert alles. Aktuell plant er eine Hochzeit nach westlichem Vorbild – und dafür braucht er einen Ausländer. Aha. Ich verstehe. Deshalb auch die Frage nach der Bezahlung…

Ich fühle mich hintergangen, werde aber trotzdem mitmachen. Wann bekommt man schon mal Gelegenheit einer chinesisch-christlichen Hochzeit beizuwohnen? Außerdem wird mir versichert, dass es sich bei meinem Auftritt nur um eine kleine Gastrede handelt. Nur ein paar Sätze auf Englisch – das exotische Element eben. Den Rest erledigen der Hochzeitsplaner und seine Mitarbeiter.

Ein paar Tage später werde ich zu einer Probe einberufen. Probe? Mir schwant Schlimmes. Als ich mich zum verabredeten Zeitpunkt in der Kirche einfinde, laufen die Vorbereitungen bereits auf Hochtouren: Altar und Bühne werden mit weißen Kerzen und jeder Menge Blumen ausstaffiert, Sitzbänke unter lauten Anweisungen des Hochzeitsplaner-Chefs arrangiert und in der Eingangshalle wird eine ‚Merry-Christmas’-Girlande (!) ausgerollt. Als der Chef mich erblickt, stürzt er auf mich zu und drückt mir das Skript in die Hand. Es sieht vor, dass ich die Messe lese. Ich bin entsetzt. Er stellt sich das Ganze so vor, dass ich auf der Bühne hinter dem Altar stehe und auf Englisch meinen Text aufsage und er dann übersetzt - schließlich wird voraussichtlich keiner der Hochzeitsgäste auch nur ein Wort englisch verstehen.

Kirche

Ich beginne zu begreifen, dass er mich als Pfarrer zu verkleiden gedenkt und ich ohne Gesichtsverlust aus der Nummer auch nicht mehr herauskomme. Ich werde der Braut Jialin Jia und dem Bräutigam Chen Lei das Jawort abringen und ich werde den beiden die Frage aller Fagen stellen müssen: ‚Will you love and honor her/him all the days of your life?’ Und das auf einer Bühne stehend, verkleidet als Pfarrer mit Robe, behangen mit einem roten Schal und einem silbernen Kreuz. Holy Shit. Zu allem Überfluss erfahre ich noch, dass Chen Leis Vater ein hohes Tier in der Changchuner Provinzregierung ist und deshalb muss natürlich alles besonders reibungslos ablaufen.

Am nächsten Tag ist Hochzeit, an einem Werktag um 10.00 morgens. Unsicher stehe ich vor der Bühne herum. Ich kann mich mit niemandem so recht unterhalten. Der Chef ist noch aufgeregter als ich und kümmert sich um die letzten Feinheiten wie Musik und Kameraleute (!). Dann kommt endlich eine Frau auf mich zu. Sie überreicht mir meine Verkleidung und fragt mich nach meinem Glauben. Sie spricht ein bisschen englisch und es stellt sich heraus, dass sie Theologin ist und jeden Samstag den Gottesdienst macht. Ich fühle mich noch elender. Ein Wolf im Schafspelz. Dem Chef sind meine Zweifel egal – er hat die Kirche für dieses Event gebucht, es geht ihm ausschließlich um ein gutes Geschäft. Verdammte Ketzer sind wir, denke ich mir, als ich die unschuldig dreinblickende Pfarrerin betrachte.

Dann geht es los. Die Kirche ist voll besetzt, alle Kameraleute und Fotographen in Stellung. Die Tür öffnet sich und der Bräutigam betritt den Raum. Begleitet von seinem Trauzeugen läuft er zu ‚Ode an die Freude’ an den Gästen vorbei, um dann vor mir stehen zu bleiben. Das Publikum applaudiert. Dann die Braut. Flankiert vom Brautvater und einer Dame in weiß schreitet sie stolz zu ‚Amazing Grace’ auf den Traualtar zu. Jubel brandet auf. Dann kommt auch sie vor mir zum Stehen und die Menge wartet hoffnungsfroh auf meine Worte der Nächstenliebe. Im Grunde ist es egal, was ich sage, es versteht mich ja doch keiner. Trotzdem – ich halte mich an die Vorgaben und fange an, die Hochzeitspredigt zu halten, die der Agenturchef ganz offenbar irgendwo aus dem Internet hat. ‚Today we gathered here under the watchful eye of god...usw’. Nach jedem Absatz halte ich inne und warte auf die Übersetzung aus dem Off. Alles läuft wie geplant. Die entscheidenden Fragen werden von beiden artig bejaht, der Trauzeuge hat auf das vereinbarte Stichwort die Ringe zur Hand und der Aufforderung sich zu küssen, kommt das Paar auch sofort nach, sodass ich beide am Ende der Sitzung feierlich zu Mann und Frau erklären kann. Erneut brandet Jubel auf, ‚Ode an die Freude’ erklingt und ich bleibe wie versteinert hinter dem Altar stehen. Dann wendet sich das Paar zum gehen, die Hochzeitsgesellschaft folgt. Als alle die Kirche verlassen haben, stehe ich noch immer total verunsichert hinter meinem Altar, bis der Chef auf mich zukommt, irgendwas mit ‚Thank You, well done’ redet und ebenfalls verschwindet. ‚Äh ja, nichts zu danken’, rufe ich noch halbherzig hinterher, mit dem unschönen Gefühl missbraucht worden zu sein.

Scheinheilig. Wenn ueberhaupt...

Nun bin ich alleine mit der richtigen Pfarrerin. Sie lädt mich ein am Gottesdienst am Samstag teilzunehmen. Vielleicht sollte das Angebot wahrnehmen, um dort Buße zu tun für diese unfassbar verlogene Vorstellung. Auf der anderen Seite – was ist schon passiert? Ich war Hauptdarsteller in einer trashigen chinesischen Hochzeit und habe zwei Menschen in den Hafen der Ehe geleitet. Außerdem dürfte es dem Hochzeitspaar und der Gesellschaft sowieso nur um das Event gegangen sein, auf dem ich das Maskottchen war. Na ja, wie ich es drehe und wende – irgendwie bleibt da ein komischer Beigeschmack. Später rät mir ein Freund, Visitenkarten anzuschaffen. Neben Gabelstaplerfahrer, Tankwart, Pizzabote und Lehrer könnte ich da jetzt auch Priester drauf drucken lassen. Warum eigentlich nicht…?



Donnerstag, 15. April 2010
Vogelmenschen
Nach einigen verspäteten Wintereinbrüchen und Schneestürmen im April sieht es so aus, als würde jetzt endlich der Frühling Einzug halten in Changchun. Der Winter war endlos, die Menschen litten unter den sibirischen Verhältnissen. Wirklich warm ist es zwar noch nicht, aber dennoch scheinen sich viele nach dem Kalender zu kleiden – ab Anfang April trotzen sie den kalten Temperaturen mit sommerlicher Kleidung. Während ich noch auf meine vielschichtige Eskimo-Jacke angewiesen bin, laufen sie schon in Hemden und leichten Pullis rum. Ein weiteres Indiz für den bevorstehenden Temperaturumschwung sind Motorrollerpiloten, die, ausgerüstet mit krachenden Anlagen, aus denen derbe Bässe knallen, die Straßen zurückerobern. Auch hängen viele Geschäfte und Spießlokale die dicken Isolationsdecken ab. Im Winter muss man sich ständig durch schwere Vorhänge kämpfen, um ins Innere von Gebäuden zu gelangen - alles öffnet sich und das Leben verlagert sich nach draußen. Trotzdem. Irgendwas fehlt.

Es gibt keine Vögel. Jedenfalls hört und sieht man sie nicht. Als Vogel würde ich mir aber auch nicht Changchun als Lebensraum aussuchen. Vertrieben durch Lärm und Dreck, vergiftet durch Müll und Abwasser, verscheucht von ständiger Hektik. Exodus von Amsel, Drossel, Fink und Star. Wobei diese gefiederten Freunde noch einen tadellosen Ruf genießen – anders als die Spatzen. Die wurden ende der 50er Jahre vom Großen Vorsitzenden Mao Zedong als großes Übel ausgemacht. Schließlich fressen sie all den guten Reis weg und sind damit verantwortlich für Hunger, Not und Elend, also müssen sie sterben. Es folgte ein regelrechter Spatzengenozid - Bauern mussten mit Töpfen und Pfannen solange Lärm machen und die Vögel in der Luft halten, bis sie erschöpft oder tot vom Himmel fielen. Blöderweise mündete das in eine Insektenplage und China musste Spatzen aus Russland importieren.

Allerdings haben viele Vögel den Weg zurück in die städtische Gesellschaft gefunden: In Changchun gibt es keine Müllabfuhr, dieser Job wird von vielen Sammlern mit Handkarren und Fahrrädern erledigt. Sie laufen durch die Straßen und fordern die Anwohner laut rufend auf, ihren Müll nach draußen zu bringen. Mit ein bisschen Fantasie erinnern die Rufe an Vogelgezwitscher. Ich werde bei offenem Fenster von einem ‚HähHäääähHäh!’ geweckt. Könnte ein Auerhahn sein. Manchmal sind auch taubenartige Gurrgeräusche zu hören: ‚GuahhGuahh!’, oder aufgeregtes Krähengekreisch: ‚KahhhhKaaaahahaaa!’ (Das R ist auch für chinesische Krähen schwer auszusprechen).

Vogelmensch

Der Legende nach sind die Müllsammler Inkarnationen geschundener Vogelseelen. Klagend schieben sie ihre schweren Karren durch die Straßen und erinnern die Menschen an ihr Leid. Ein bisschen ist das so, als würden sie Material für den Nestbau sammeln. Das schaffen sie dann zu überall verstreuten Resthöfen, auf denen sie das Gesammelte sortieren und in seine Einzelteile zerlegen. Hinter meiner Schule sah ich kürzlich pechschwarze Rauchschwaden aufsteigen – neugierig schaute ich nach. Einige Vogelmenschen hatten zwei Sofas und einen Sessel in Brand gesetzt. So trennen sie für den Nestbau relevantes Material von wertlosem Schrott. In diesem Fall sind sie interessiert am metallenen Innenleben der Couchgarnitur, dem Fundament eines jeden stabilen Nests. Gut für sie, dass sie sich nicht mehr um ihre Artgenossen scheren müssen und guten Gewissens den Himmel verdunkeln können. So leben auch in Changchun Vogel und Mensch wieder glücklich und zufrieden in harmonischer Eintracht.

Vogelmensch



Dienstag, 16. März 2010
Changchun kulinarisch
Als Fastfood der nordostchinesischen Küche überall zu haben sind Spieße. An fast jeder Straßenecke steht ein Grillmeister und wendet leckere Häppchen für Zwischendurch. Hier allerdings häufig nur mit einer Sorte Fleisch, Schaf oder Huhn. Abwechslungsreicher ist die Karte in den vielen Spießlokalen. Diese gibt es auch überall. Sie sind leicht zu erkennen an schaschlikförmigen Lichterketten vor der Tür. Aber Vorsicht: Nicht verwechseln mit fußförmigen Lichterketten – hier gibt es keine Spieße, nur Prostituierte.

Hat man die richtige Tür erwischt, kann man sich die Holzspieße nach Herzenslust bestücken lassen - mit Pilzen, Tomaten, Paprika oder Peperoni. Ein besonderes Highlight für mich sind jedes Mal die Auberginen und in Tofu eingerolltes Gemüse. Natürlich befinden sich auch verschiedene Fleischssorten auf der Speisekarte. Huhn, Ente, Schwein, Rind und Hammel. Wahrscheinlich aufgrund ihrer Größe eigenen sich besonders die Innereien der geflügelten Freunde gut zum Verzehr auf Spießen - sie finden sich neben ihren Hälsen auf den Karten der Grillmeister. Meeresbewohner kommen auch nicht zu kurz. Am beliebtesten sind zweifellos die Tintenfische. Wahrscheinlich weil sie sich wegen ihrer Knochen- und Grätenlosigkeit gut zum Aufspießen eignen.

Magen- und Darmprobleme vermeidet am besten, indem man dem Mann am Grill nach der Bestellung ein ‚hen la’, sehr scharf, mit auf den Weg gibt. Den Anfängerfehler, sich während des Essens Nase oder gar Augen zu reiben, vermeide ich inzwischen. An das Kribbeln in Mund und Rachen gewöhnt man sich schnell – schneller geht’s mit Bier. Das wird in diesen Lokalen sowieso in rauen Mengen getrunken. Vermutlich einer der Gründe, weshalb es hier ausgesprochen rustikal zur Sache geht: Lautes ‚Ganbei’ Gebrülle und Geschmatze, gelegentliches auf den Boden Spucken und lautstarkes Nachbestellen sind genauso obligatorisch, wie die Bedienungen, die die Überreste gegangener Gäste einfach unter den Tisch kicken. Dazu passt das durchgerockte Interieur. Ehemals weiße Wände färben sich bräunlich, manchmal ins Schwarze gehend, die Tische und Stühle sind oft von einem Fettfilm überzogen und in den Ecken sammeln sich die Überreste vergangener Spießgelage. All das macht aber nichts – denn die Spieße schmecken stets hervorragend. Ich wage auch zu behaupten, dass sie nur in dieser Umgebung gut schmecken. Habe mal den Take-away-Versuch probiert und schnell festgestellt, dass das einem die Freude an Spießen verderben kann – Gegrilltes schmeckt einfach nur in Gesellschaft.

Sind die Spieße das Fast Food der nordchinesischen Küche, ist der Hotpot die Haute Cuisine. Gemein mit den Spießen ist ihm allerdings, dass er auch nur in Gesellschaft schmeckt. Auch geht es oft äußerst herb zu, in Restaurants in denen er zubereitet wird.
Man nimmt an großen, meistens runden Tischen, Platz, in denen der Hotpot bereits eingelassen ist. Oft ist der Hotpot zweigeteilt. Das ist besonders praktisch, wenn sich Vegetarier und Nicht-Vegetarier, Scharfesser und Nicht-Scharfesser einen Tisch teilen. In ihm wird dann ein Sud erhitzt, in den man im Grunde alles Essbare hinein schmeißen kann. Gemüse und Fleisch gleichermaßen. Allerdings sollte das Fleisch möglicht dünn geschnitten sein - einen rohen Hühnerhals möchte man schließlich nicht zwischen die Zähne kriegen. Hat man es geschafft, etwas mit Stäbchen aus dem brodelnden Topf zu fischen, es identifiziert und für gut befunden, dippt man es am besten in einer Erdnussoße. Die kühlt ab und schmeckt gut. Das Getränk der Wahl ist auch hier, wie sollte es anders sein, Bier. Chinesen lieben Bier.

Sind Spieße das Fast Food und der Hotpot die Haute Cuisine Nordostchinas ist die Kantine der Changchun Foreign Language School die Armenküche. Klingelt es zur Mittagspause um 11.35 Uhr strömt die Schülerschaft ins Erdgeschoss, die Lehrer in den 4. Stock des Hauptgebäudes. Dort befinden sich die Essäle der Schule. Im Erdgeschoss herrscht Chaos – schieben, drängeln, schubsen. Im 4. Stock auch. Die Lehrer kämpfen um die Pole Position am Buffet. Am guten Essen kann das allerdings nicht liegen, vielmehr wollen sie auf keine Minute ihres Powernappings in der insgesamt 90-minütigen Pause verzichten.

Die Kantine ist dabei recht praktisch eingerichtet. Direkt hinter dem Eingang sind zwei lange Tische aufgebaut, auf welchen sich bis zu fünf Behälter befinden. Zunächst muss man sich mit Stäbchen und Teller ausrüsten und dann in die Lehrerschlange einreihen. Um 11:36 ist diese unheimlich lang und reicht bis vor den Fahrstuhl im Flur – aber Abwarten ist nicht, denn der Koch ist sehr rigoros was seine Arbeitszeiten angeht. Manchmal glaube ich, er würde auch vor Gewaltanwendung nicht zurückschrecken, wenn man sich erdreistet, nach 11:45 nach etwas Essbaren zu fragen. Egal. Schlange stehen ist ja auch schön.

Nur sollte man die Vorfreude auf das Essen während des Wartens auf ein Minimum reduzieren. Ich wurde bisher noch immer enttäuscht. Im ersten Behälter befindet sich gewöhnlich Reis. Das ist gut – schließlich ist er geschmacksneutral. Im nächsten Behälter ist IMMER irgendwas mit Sellerie. Sellerie absorbiert den Geschmack von Allem. Ganz egal, was sonst noch in diesem Gericht ist – es schmeckt nach Sellerie. Der dritte Behälter ist oft sehr farbenfroh. In einer currygelben oder erbsengrünen Soße schwimmen verschiedene Zutaten. Allerdings schmecken die Zutaten nie nach Curry oder Erbsen, sondern irgendwie anders. Der vierte Behälter enthält dann wieder etwas Berechenbares. Meistens große Stücke Süßkartoffeln. Der fünfte Container ist dann wieder gefüllt mit kaum zu identifizierenden Nährschlamm. Zu trinken gibt es nichts – wenn man will kann man das Ganze mit lauwarmer Sojamilch runterspülen. Den Fehler habe ich aber nur einmal gemacht – als mich der Schulleiter zum Empfangslunch begrüßte und ich verkrampft versucht habe, mein Würgen vor ihm zu verbergen. Aber hey – immerhin ist das Essen umsonst.

…und dann ist da schließlich auch noch ‚Digger’s Donuts’ – ein Laden betrieben von zwei liebenswürdigen Australiern. Nur am Wochenende geöffnet, gibt es hier Sandwiches und Hotdogs zu Schleuderpreisen. Fragt man an einem bierseligen Freitagabend allerdings nach Donuts, erntet man nur ein Schulterzucken. Die gibt es nicht, weil ein chinesischer Donutmaschinengroßhändler, angeblich aus Angst vor der Konkurrenz, den Verkauf einer solchen Maschine verweigert. Eine Umbenennung in ‚Digger’s Nonuts’ wird deshalb diskutiert



Sonntag, 29. November 2009
Nervöse Typen
Die Taxifahrer in Changchun sind hypernervös. Immer wieder überraschen sie mit interessanten Manövern – zum Beispiel das Überholen auf dem Bürgersteig. Aus der Perspektive des Beifahrers hat das oft Slapstickcharakter: Die Fahrer geben sich lässig und unbeeindruckt, während sie wild hupend die Fußgänger umkurven. Oft hängt ihnen dabei eine Zigarette im Mundwinkel und aus dem Radio plärren chinesische Schnulzen.

Kommt das Vehikel dann tatsächlich mal vor einer Ampel oder in einem Stau zum Stillstand, ist die Nervosität nicht mehr zu übersehen. Eigentlich könnte man sich in solchen Situationen ja mal entspannt zurücklehnen und durchatmen – nicht so chinesische Taxifahrer. Gaspedal durchdrücken, Motor aufheulen lassen, Kupplung kurz kommen lassen, bremsen. Ab und an Ausbruchsversuche in den Gegenverkehr, die von vornherein zum Scheitern verurteilt sind. Dazu ständiges Hupen. Sowieso scheint es so etwas wie eine Downloadbörse für Huptöne zu geben. Von Schiffshörnern bis zu kurzen Melodien ist alles dabei – Hauptsache laut und auffällig. Übersehen oder überhört zu werden ist offenbar die schlimmste Vorstellung der Taxifahrer. Wenn man die Fahrer so bei der Arbeit beobachtet, drängen sich Rückschlüsse von ihrer Psyche auf den Geisteszustand des ganzen Landes auf. Denn nervös wirken die meisten.

Wie schnell wird man doch abgehaengt...

Auch in der Schule begegnet mir die allgemeine Aufgeregtheit ständig. Besonders deutlich Samstagabends nach Schulschluss. Dann stehen Horden aufgekratzter Eltern vor den Toren und warten auf ihre Sprösslinge. Mit ihren Autos lösen sie dabei jedes Mal ein Verkehrschaos aus. Insbesondere gut betuchte Väter fallen unangenehm durch ihr Imponiergehabe auf, indem sie ihre Schlitten mitten auf der Straße abstellen. Dabei hat derjenige mit dem größten Auto das Recht auf die größten Rücksichtslosigkeiten. Dann stehen sie rauchend herum und warten auf die Stammhalter. Die Mütter tippeln nervös auf den Zehenspitzen herum und spekulieren über den Zaun auf das Schulgelände. Vor ihren Nasen hängen großformatige Listen der Besten der letzten Jahrgänge. Die machen sie nervös. Es wäre nicht zu ertragen, wenn der eigene Spross sich eines fernen Tages nicht auf Platz unter den Top Ten wieder finden würde.

An diese unsichere Nervosität der Eltern appellieren nervöse Lehrer. Ständig werde ich angesprochen von jungen Kollegen, die auch endlich am großen Rad drehen wollen. In China rangieren Lehrer auf der Gehaltsrangliste weit hinten. Um eines fernen Tages die eigenen Kinder mit einem der neuen tollen Autos von der Schule abzuholen, muss man sich also was einfallen lassen. In der Kantine werde ich deshalb, wie alle anderen Ausländer auch, verschwörerisch angesprochen: ‚Pass auf. Wir machen das so: Wir warten dieses Semester ab und dann gründe ich meine eigene Fremdsprachenschule. Dann musst Du bei mir arbeiten. Ich zahl auch besser.’ Wenn man ernsthafte Ambitionen hat, braucht man schließlich irgendeinen Ausländer den man vorzeigen kann. Im Kollegium gehen offenbar Gerüchte, dass auf diese Weise lukrative Geschäfte locken. Kann ich mir gut vorstellen, schließlich haben die Eltern eine Heidenangst, ihr Kind könnte aufgrund mangelhafter Fremdsprachenkenntnisse abgehängt werden.

alles neu - will ich auch haben

Wie die Taxifahrer, die nervös nach dem richtigen Weg suchen, verhalten sich oft auch Kunden in den großen Supermärkten. Ja nicht das richtige Angebot oder das neuste Produkt verpassen. Das ist nicht so einfach, denn täglich werden neue schöne Dinge eingeführt. Um ihrer Orientierungslosigkeit Herr zu werden, richten sich viele Kunden nach der Werbung. Die ist in China oft unfassbar plump. Auf Plakaten halten debil grinsende Menschen dem Betrachter ein Getränk, einen Schokoriegel oder ein Duschgel entgegen. Die reine Masse an Promotion und bunten Bildern, die oft auch noch akustisch untermalt wird, führt zu völliger Reizüberflutung. In den Märkten kann man Szenen beobachten, die ich als Panikkäufe bezeichnen würde – Taxifahrerstyle.

Kaufrausch - im Vordergrund Tubenhuhn



Mittwoch, 11. November 2009
Elterngeld mal anders
Fast alle Kinder in der Changchun Foreign Language School sind Einzelkinder. 'Habt ihr Geschwister’? 'No Teacher! Mei You Bruder oder Schwester!'.

Die Ein-Kind-Politik hat zweierlei zur Folge: Zum einen stehen die Schüler dadurch unter noch höherem Druck: Zusätzlich zur totalen Schule, werden sie von ihren Eltern auch in der spärlichen Freizeit zum permanenten Lernen angetrieben - schließlich lastet auf ihren Schultern der Druck die einzigen Ernährer der Zukunft zu sein.
Zum anderen werden sie aber auch total verwöhnt. Die Wendung 'Kleine Kaiser' kommt wohl nicht von ungefähr. Sonntags ist der Tag der Familienausflüge. Offenbar ist Einkaufen eine besonders beliebte Unternehmung. In den großen Supermärkten kann man dann überall propere Kinder beobachten, die betüdelt und umringt von Mama, Papa, Oma und Opa, die Einkaufswagen voll machen. Danach geht's dann zu KFC oder McDonlald's den Bauch voll machen.

Wie aber schafft man es, ein so großes Volk dazu zu bringen, nur ein Kind pro Familie zu haben? Ich habe Seagull gefragt. Sie hat sogar eine kleine Schwester. Ich war verblüfft. Die hat ihrer Familie allerdings Geld gekostet – auf Zweitgeborene wird eine Strafe, ein Kindergeld sozusagen, verhängt. Auf Wunsch gibt es im China des Aufschwungs also für etwas besser situierte Familien die Möglichkeit, die 1-Kind-Regelung zu umschiffen. Seit einiger Zeit dürfen auch Eltern, die ihrerseits beide Einzelkinder sind, 2 Kinder bekommen. Ansonsten wird die Familie zu klein und die Versorgung der Alten ist gefährdet.

Trotzdem sind Geschwister in den Städten noch die Ausnahme. Auf dem Land ist ein zweites Kind erlaubt, wenn das erste ein Mädchen oder behindert ist. Hier folgt man dieser Logik: Ein Mädchen kann nicht so gut auf den Feldern arbeiten, außerdem wird sie irgendwann heiraten, wegziehen und eine andere Familie umsorgen – deshalb muss unbedingt ein Junge her. Die Kombination Mädchen-Junge oder auch Mädchen-Mädchen-Junge ist deshalb relativ häufig. Noch vor Jahren durften auch Landbewohner nur ein Kind haben - das führte dann aber zu hohen Abtreibungsraten und sogar Kindstötungen. Grauenhaft. Besonders um Abtreibungen zu verhindern, ist es verboten, das Geschlecht des Kindes vor der Geburt festzustellen. Außerdem fühlt der Staat sich veranlasst, den öffentlichen Raum auf dem Land mit Propagandabannern mit Slogans wie ‚Mädchen sind auch gute Kinder’ und ‚Es ist verboten Mädchen zu diskriminieren’ zu plakatieren.

Die städtische Bevölkerung wird von der Propaganda angehalten ‚Spät zu heiraten und spät Kinder zu bekommen’. In Deutschland muss man uns das ja nicht extra sagen. Sind wir nicht genau deshalb sogar auf einem absteigenden Ast und sterben bald aus? Dass die Chinesen aussterben, will das Familienplanungsministerium ganz sicher nicht erreichen. Nur dass sich die Bevölkerung nicht allzu schnell wächst.

Ich finde das alles relativ unheimlich und auch unübersichtlich – wenn man aber drauf achtet, ist die Familienplanung allgegenwärtig. Am deutlichsten sichtbar für mich natürlich in der Schule. Aber auch sonst: In Drogerien, Supermärkten und Apotheken werden Kondome unter der Rubrik ‚Family Planning’ feilgeboten, Sterilisationskliniken werben auf Bussen und Häuserwänden. Angeblich wird die Sterilisation des Mannes nach einmaliger Vaterschaft sogar vom Staat bezuschusst. Ein-Kind-Familien erhalten längere Elternzeit und andere finanziellen Vorteile. China stellt sogar ein ‚Ehrenzertifikat für Eltern EINES Kindes’ aus – es ist ein patriotischer Akt eine Ein-Kind-Familie zu haben. Ursula von der Leyen hätte hier auf jeden Fall keine Chance auf das Amt der Familienministerin. l



Montag, 2. November 2009
Vorm Tor eiskalt - Changchun Yatai
Der Winter kam plötzlich. Sibirische Verhältnisse haben Einzug gehalten in Changchun - und das pünktlich zum Saisonfinale der chinesischen Super Soccer League. Nicht dass das hier irgendjemanden auch nur im Geringsten interessieren würde - Fußball ist und bleibt eine Randsportart. Obwohl 'Changchun Yatai', das Profiteam der Stadt, über Jahre die chinesische Liga domniert hat, kennt es kaum jemand. So auch der Taxifahrer, der mich mit zwei gleichgültigen Neuseeländern zum Spiel fahren sollte - er erwischte original das falsche Stadion. Ratlosigkeit. 'Wer soll hier spielen und wann?', fragt er ahnungslos. Für mich völlig unverständlich, kann sein Team doch dieses Wochenende erneut chinesischer Meister werden. Es ist nämlich so: An der Tabellenspitze befinden sich mit jeweils 48 Punkten Beijing Guoan und Henan Siwu, gefolgt von Changchun Yatai mit 47 Zählern. Yatai muss also auf Patzer der anderen Teams lauern.

Nach einer endlosen Tour durch die Stadt, erreichen wir dann mit Verspätung das richtige Stadion. Karten sind kein Problem. Das Taxi wird sofort von bestürmt von Ticketverkäufern - 3€ das Stück sind nicht zuviel.

Drinnen ist es zugig. 15 Grad minus und ein eisiger Wind. Ich merke sofort, dass mein Schuhwerk nicht wintertauglich ist. Das Stadion ist etwa zu einem Viertel gefüllt, etwas abseits in der Kurve haben sich die Ultras schon warmgesungen. Sie tragen einheitlich rote Shirts und haben die Banden mit Transparenten ausgekleidet. Zu hören sind Fangesänge, die mir aus deutschen Stadien bekannt sind. Das wirkt irgendwie niedlich, sieht die Gruppe aus der Entfernung doch echt verloren aus. Aber man merkt, sie hoffen und fiebern noch auf den Titelgewinn.

Dann passiert es. Yatai geht mit 1:0 in Führung. In der Fankurve werden bengalische Feuer gezündet. Die Euphorie vertreibt die Kälte, denn gleich wird nachgelegt. 2:0 kurz vor Ende der ersten Halbzeit. Nützt aber alles nichts, wenn nicht gleichzeitig Peking und Henan patzen. Dann auch noch der Anschlusstreffer für den heutigen Gegner Chongqing Lifan, der offenbar ohne den guten alten Kugelblitz Ailton angereist ist.

Die Homecrowd ist außer sich. Noch kann Yatai Meister werden.

Halbzeit. Kein Bier, keine Bratwurst. Sonnenblumenkerne sind hier der einzige Stadionsnack - allerdings ist es unmöglich die Kerne bei dieser Kälte zu öffnen. Dann geht's weiter. Jetzt bei Flutlicht. Das Spiel plätschert nur so dahin - irgendwann fällt aus heiterem Himmel das 3:1. Verhaltener Jubel. Auch die Ultras wirken jetzt wie eingefroren. Vielleicht sind sie es sogar, sie stehen mit dem Gesicht im immer stärker werdenden Wind. Die Temperaturen sind noch mal um ein paar Grad abgerutscht seit die Sonne weg ist. Vielleicht haben sie aber auch von Pekings Führung erfahren. Um das zu klären, reichen meine Sprachkenntnisse nicht aus.

Vorm Tor eiskalt - Changchun Yatai

Gegen Ende fällt noch das 3:2. Das war's - leider hat es nicht zur Meisterschaft gereicht - Peking hat einen souveränen Sieg eingefahren und ist somit chinesischer Meister. Für die Provinzkicker aus Changchun reicht es immerhin noch für Tabellenplatz zwei, denn Henan hat noch Punkte gelassen.

...die Ultras schöpfen noch Hoffnung

Der Stadionbesuch war ein interessantes, wenn auch eiskaltes, Ereignis. Die chinesischen Fans sind mit Leib und Seele dabei. Sehnlichst wünschen sie sich mehr Anerkennung für die Super League – ihre Vorbilder spielen allerdings deutlich erkennbar an ihren Fanklamotten in den europäischen Ligen – ManU und AC Mailand sind dabei die Favoriten. Als wir das Stadion verlassen, ist da wieder diese Gleichgültigkeit. Das Stadion liegt ein Stück außerhalb der Stadt – kein Bus, kein Taxi in Sicht und so bleibt uns ein Gewaltmarsch bei sibirischen Verhältnissen nicht erspart. Ailton hat mal wieder alles richtig gemacht. Er hat es wohl kommen sehen – Abstieg seines Teams in die zweite Liga, arktische Kälte und schlechte Laune. Dann lieber Vertragsverhandlungen in der albanischen Provinz.

alles gegeben und doch verloren -  Yatai-Fan



Freitag, 23. Oktober 2009
Tücken des Alltags
Die Menschen in China begegnen den Widrigkeiten des täglichen Lebens mit großem Gleichmut. Ich versuche, mir auch diese Art von Gelassenheit anzueignen. Gar nicht so einfach, wenn ständig der Strom ausfällt oder das Wasser über Tage nicht läuft. 'Mei You' höre ich dann ständig und überall.

'Mei You' bedeutet 'nicht haben'. in den letzten Wochen hatte ich so einiges nicht. 'Mei You Shui' - 'Kein Wasser haben' ist dabei das schlimmste 'Mei You'. 100 Leute habe ich gefragt, wo das Wasser bleibt. Die 10 häufigsten antworten waren:

1. Mei You
2. Mei You
...
10. Mei You

Beim Familienduell mit Werner Schulze-Erdel hätte man leichtes Spiel. Irgendwann lief das Wasser dann wieder. Allerdings nur kalt. 'Wieso habe ich kein warmes Wasser?' frage ich den Hausmeister. Als Antwort erhalte ich ein Schulterzucken und das obligatorische 'Mei You'. Ich schalte weitere Personen ein. Nach einigen Tagen tauchen immer mal wieder irgendwelche Leute in meiner Wohnung auf und nehmen den Durchlauferhitzer in Augenschein. Kaputt das Ding. 'Kann man das reparieren?', 'Mei You Ersatzteile!'. Tja. Und jetzt? Im Zuge des Warmwassermangels werde ich Mitglied in einem Fitnesscenter - im Grunde nur um zu duschen. Das war auch nötig, 6 Tage ohne warmes Wasser haben mir übel zugesetzt.

Irgendwann frage ich mal wieder nach, ab wann ich denn wieder mit warmen Wasser rechnen könne. Ich ernte einen ungläubigen Blick des Hausmeisters. Er kommt mit in meine Wohnung, macht den Wasserhahn an und siehe da - warmes Wasser. Es stellt sich heraus, dass während meiner Abwesenheit Handwerker in meiner Wohnung waren. Zwei Dinge kommen mir dabei komisch vor:
1. Warum können fremde Menschen einfach so in meine Wohnung kommen, wenn ich nicht da bin und
2. Warum erzählt mir niemand von der Reperatur?

Neuerdings legt die sonst so zuverlässige Miss Zhou ein ähnliches 'Mei You'-Verhalten an den Tag. Seit einigen Tagen hat sie meinen Reisepass. Damit muss sie zur Polizei und mein Visum verlängern lassen. Ohne Pass fühl ich mich bewegungsunfähig, eigentlich bin ich es sogar. Könnte jetzt nicht ohne weiteres das Land verlassen. Auf Nachfrage, ob ich meinen Pass wiederhaben kann, antwortet sie: 'Mei You'. Was sonst?

Auch ist der Geldfluss ins Stocken geraten. Funktionierte er bisher tadellos, habe ich mir heute morgen das erste 'Mei You' vom Kassenwart eingfangen. Immerhin schickte er noch hinterher, dass Montag Zahltag sei. Was ist da los? Ich räche mich oft an falscher Stelle. Die Englischlehrer sind stark an meinen Präsentationen aus dem Unterricht interessiert. Immer häufiger antworte ich auf die Anfragen mit einem trotzigen 'Mei You'. Allerdings bin ich auf sie angewiesen, da ich sie häufig als Übersetzer missbrauche. Mit meinem Verhalten riskiere ich also weitere 'Mei You'. Langfristig ist 'nicht haben' für mich also keine Option.

Diese ständigen 'Mei Yous' zwingen mich zur ständigen Improvisation. Aber ich glaube, damit bin ich nicht alleine. Dem ganzen Land scheint es zu gehen. Irgendwas fehlt immer. Im Straßenbild wirkt vieles notdürftig zusammengebastelt. Diese Zusammenflickmentalität ist vermutlich der Grund, weshalb man in China so wenig auf Ästhetik achtet - Improvisationen haben zwar Charme, sind aber selten hübsch anzusehen.

In meinem Alltag, also im Unterricht, macht sich das immer dann konkret bemerkbar, wenn entweder der Computer kaputt ist oder der Strom ausfällt. 'Mei You Strom' heißt es dann. Also irgendwas aus den Fingern saugen. So langsam beherrsche ich diese Disziplin ganz gut - nur beim Wasser ist das ganze echt unangenehm. Wie schnell Dinge doch ohne Wasser verdrecken. Erstaunlich.



Montag, 12. Oktober 2009
Riders in the dust
Am Sonntag hatte ich das Vergnügen an einem Motorradausflug teilzunehmen. Ein Freund von mir hat 2 Crossmaschinen im Keller. Geil. Er lud mich ein, mit ihm einen kleinen Ausritt zu wagen. Das sollte sich lohnen.

Zuerst hatte ich Schiss. Die Straßen in Changchun werden beherrscht von Geisteskranken und Lebensmüden – so dachte ich zumindest. Nimmt man aber aktiv am Verkehr teil, ist es doch relativ leicht. Im Grunde muss man nur drei einfache Regeln beachten – die aber konsequent.

Die erste: niemals zögern. Gilt auch als Fußgänger. Immer einen zielstrebigen Eindruck machen. Auch wenn man nicht weiß, wohin man will. Dadurch wird man für die anderen Fahrer berechenbar.
Die zweite: Vorfahrt immer selbst nehmen. Sowas wie rechts vor links gibt’s hier nicht. Wenn man darauf wartet vorgelassen zu werden, greift Regel 1. Man wirkt irrational und nicht zielstrebig. Die anderen Fahrer können mit diesem Verhalten nicht umgehen – Unfälle werden wahrscheinlicher. Also lieber einfach ein beliebiges Ziel anpeilen und los.
Die dritte: auf keinen Fall vom Gehupe beeindrucken lassen. Das hat absolut nichts zu bedeuten.

Beherzigt man diese Regeln, macht Motorradfahren Spaß. Ich hatte allerdings einen erfahrenen Fahrlehrer, der mich wirklich beeindruckt hat. Für ihn ist das alles Routine und ich brauchte ihm einfach nur hinterher zu fahren. Er achtete auch darauf, dass wir die wirklich durchgeknallten Kreisverkehre mieden und so schnell wie möglich aus der Stadt kamen. Auch das wirkt auf mich außerordentlich beeindruckend, denn ich leide noch immer unter großer Orientierungslosigkeit.

am Anfang war ne Panne - aber Mike and the Mechanics waren gleich zur Stelle

Verlässt man die Stadt, wird es wirklich verrückt. Die Stadt wächst ins uferlose. Allerdings nicht wild und unstrukturiert, sondern generalstabsmäßig geplant. Als erstes werden große Streifen einfach mal asphaltiert. Diese dienen dann später als Ausfallstraßen. Die Stadt wächst dann in den nächsten Monaten an ihnen entlang. Rund herum um diese riesigen Baustellen geht das Leben der Landbevölkerung seinen gewohnten Gang. Zurzeit ist Maisernte und überall liegen große gelbe Haufen. Geerntet und geschält (Schält man Mais?) von Hand. Häufig kommen uns Eselskarren oder motorisierte Dreiräder voll beladen mit der Ernte entgegen. Geritten von Frauen und Männern mit zerfurchten Gesichtern. Was geht in ihren Köpfen vor? Jeden Tag sehen sie ihren Lebensraum schrumpfen - der allegenwärtige Fortschritt lässt hier niemanden in Ruhe.

Maisernte vor beeindruckender Kulisse

Irgendwann enden dann die Baustellen aber die Stadt verschwindet trotzdem nicht. Die Kraftwerke wurden ins Umland gestellt und sehen aus der Entfernung apokalyptisch aus. Außerdem kommen wir oft an wilden Müllkippen vorbei. Dazwischen überall Bauern bei der Ernte. Die Felder werden allerdings größer, je weiter man fährt - wir fahren auf Trampelpfaden durch ein Labyrinth aus Mais. Auch erstaunlich: Glaubt man, zum ersten Mal seit langem alleine zu sein, kommt irgendwo aus einem Gebüsch ein Typ. Manchmal auf dem Fahrrad, manchmal auf dem Moped, manchmal zu Fuß. In China ist man nie allein.

Das erste Dorf durch das wir kommen, hat auch etwas Bemerkenswertes zu bieten. Hier gibt es einen Hundezüchterverein. Spezialisiert auf Deutsche Schäferhunde. Auf einem Rasenplatz trainieren Chinesen ihre Tiere und bringen ihnen Befehle bei. Die Befehle werden hierbei auf Deutsch gerufen. ‚Sitz’, ‚Fuß’, ‚Platz’ schallt es aus allen Richtungen. Die Hunde gehorchen. Als klar wird, dass wir aus dem Land der Hunde kommen, zücken alle ihre Kameras. Wir müssen mit den Chefs posieren und danach einige Hunde an der Leine halten. Richtig professionelle Fotografen haben die da. Wahrscheinlich werden unsere Gesichter demnächst in der chinesischen Ausgabe der ‚Hunde-Revue’ veröffentlicht.

Posieren für die Hunde-Revue

Wir fahren weiter. In einem großen Bogen zurück in Richtung Changchun. Je näher wir der Stadt kommen, desto düsterer wird es. Das liegt aber nicht so sehr daran, dass es allmählich Abend wird, sondern an den Baustellen. Sie produzieren unfassbar viel Staub. Was genau alles gebaut wird, kann man gar nicht genau ausmachen. Auf jeden Fall eine große Trasse für eine Bahn- oder Autobahnlinie und jede Menge Wohnsilos. Entlang der Baustellen stehen die Baracken der Arbeiter. Ein staubiges Leben. Mir kommt das alles surreal vor – der Lärm, der Dreck, die Menschen. Und das endlos.

Der Staubige

So langsam erreichen wir wieder dann aber wieder befestigte Straßen. Immer wieder unterbrochen von irgendwelchen Bauarbeiten, die man umfahren muss. Aber auch die werden weniger, je näher man der Stadt kommt. Auch der Staub wird allmählich weniger, der Verkehr und die Abgase dichter. Willkommen zu Hause. Das war ein Wahnsinnsstrip, der mir noch zu denken gibt.

Easy Rider



Freitag, 18. September 2009
Der Boss
Da ich im Moment also viel Freizeit habe, kann ich mir auch durchaus mal die Nächte um die Ohren schlagen. Letzten Mittwoch war ich mit ein paar neuen Foreigner-Bekanntschaften essen und trinken, rauchen, trinken und essen und rauchen. Muss auch mal sein.

Nach einigen Läden sind wir in einer grell beleucheteten Imbiss-Kneipe gelandet. Das ist gut, sagen meine Begleiter. Je heller der Laden, desto sauberer die Küche. Durch die Beleuchtung will man zeigen, dass man nichts zu verbergen hat. Macht irgendwie Sinn, ist aber schlecht für die Augen.

In der Mitte des Ladens sitzt ein unfassbar dicker Typ mit nacktem Oberkörper. Eine ganze Meute dünnerer Leute umringt ihn. Andere schaffen Speis und Trank herbei. Mit einer Armbewegung ähnlich der eines sizilianischen Paten winkt er sich zu uns herüber. Zu diesem Zeitpunkt waren wir nur noch zu zweit und passten bequem mit an seinen Tisch. Einer der anwesenden Dünnen kann Englisch. Er sagt, dass der Dicke der Boss sei. Er bestellt Bier und Baijiu, chinesischen Schnaps, und beordert uns mit ihm zu trinken. Alles klar Boss, dann mal her mit dem Zeug. Fühlt sich an, als würde man von innen verprügelt. Aber dem Boss schlägt man nichts ab.

Das alles dauert dann ein paar Runden und ich kann kaum noch stehen. Aber der Boss hat noch lange nicht genug. Nun lässt er seinen Wagen vorfahren. Die ganze Menge steht auf dem Parkplatz als der Boss den Motor seines VW aufheulen lässt. Das Modell hab ich vergessen. Auf jeden Fall eine lange Limousine. Dann kann ich mich erinnern, dass ich zusammen mit Clint (mein Foreigner-Freund) auf die Rückbank geschoben werde und wir losfahren. Der Boss persönlich sitzt am Steuer. Außerdem weiß ich noch, dass es im Innern des Wagens blinkt und leuchtet wie in einer billigen Tanzhalle.

Irgendwann kommen wir bei einer anderen Kneipe an, deren Besitzer ganz offenbar der Boss ist. Eigentlich ist gar nicht mehr geöffnet, trotzdem beordert er seine Leute die Musik anzumachen und Baijiu, Zigaretten und Snacks aufzutischen. Dann setzt er sich zusammen mit seinem engsten Vertrauten zu uns an den Tisch und wir trinken zusammen. Im Baijiu-Rausch ist es egal, ob man sich unterhalten kann oder nicht. Lachen und Grölen ist universell. An viel mehr kann ich aber auch nicht erinnern. Clint geht es genauso.

Am Tag darauf klingelt ständig mein Telefon - es ist der Boss. Er will trinken, ich nicht. Ich glaube, er ist es nicht gewohnt, wenn man ihm absagt. Das Handy klingelt alle paar Minuten mit einer derartigen Penetranz, dass ich es irgendwann ausmachen muss. Schon alleine wegen der Kopfschmerzen. Als ich es wieder anmache, gehen direkt einige SMS ein. Alle vom Boss und seinem Vertrauten. Sie beordern uns in seinen Laden. Heute nicht, vielleicht am Wochenende, schreibe ich zurück.



Deutschstunde
Auf Anfrage hat mir Seagull einen Sampler chinesischer Musik gebastelt. Meistens fieser Bonbon-Pop, aber ich geb mir Mühe es zu mögen. Im Gegenzug habe ich mich nicht lumpen lassen und ebenfalls in meinem Archiv gekramt. In alphabetischer Reihenfolge habe ich folgendes gefunden:


01. Clueso - Herz Boom Boom
02. Deichkind - Remmidemmi (Yippie Yippie Yeah)
03. Die Ärzte - Junge
04. Die Toten Hosen - Bis zum bitteren Ende
05. Dynamite Deluxe - Sammy Deluxe
06. Extrabreit - Flieger, grüß mir die Sonne
07. Extrawelt - Mit Liese Auf Der Wiese
08. Fettes Brot & Bela B. - [Tanzverbot (Schill to hell)
09. Fischmob - Susanne zur Freiheit
10. Hansen Band - Baby Melancholie
11. Herbert Grönemeyer - Currywurst
12. Jan Delay - Feuer
13. Kettcar - Landungsbrücken Raus
14. Lebenslang Grün-Weiß
15. Lotto King Karl - Fußball und Dosenbier
16. Nena - 99 Luftballons
17. Peter Fox - Stadtaffe
18. Peterlicht - Lied Vom Ende Des Kapitalismus
19. Peter Maffay - Über 7 Brücken musst du geh'n
20. Rio Reiser - Junimond
21. Seeed - Aufstehn
22. Tocotronic - Let there be Rock
23. Udo Jürgens - Ich war noch niemals in New York
24. Sportfreunde Stiller - Wellenreiten
25. Westernhagen - Lass Uns Leben
26. Wir sind Helden - Denkmal

Ist das noch repräsentativ? Am besten gefällt ihr übrigens Udo Jürgens.