Vogelmenschen
Nach einigen verspäteten Wintereinbrüchen und Schneestürmen im April sieht es so aus, als würde jetzt endlich der Frühling Einzug halten in Changchun. Der Winter war endlos, die Menschen litten unter den sibirischen Verhältnissen. Wirklich warm ist es zwar noch nicht, aber dennoch scheinen sich viele nach dem Kalender zu kleiden – ab Anfang April trotzen sie den kalten Temperaturen mit sommerlicher Kleidung. Während ich noch auf meine vielschichtige Eskimo-Jacke angewiesen bin, laufen sie schon in Hemden und leichten Pullis rum. Ein weiteres Indiz für den bevorstehenden Temperaturumschwung sind Motorrollerpiloten, die, ausgerüstet mit krachenden Anlagen, aus denen derbe Bässe knallen, die Straßen zurückerobern. Auch hängen viele Geschäfte und Spießlokale die dicken Isolationsdecken ab. Im Winter muss man sich ständig durch schwere Vorhänge kämpfen, um ins Innere von Gebäuden zu gelangen - alles öffnet sich und das Leben verlagert sich nach draußen. Trotzdem. Irgendwas fehlt.

Es gibt keine Vögel. Jedenfalls hört und sieht man sie nicht. Als Vogel würde ich mir aber auch nicht Changchun als Lebensraum aussuchen. Vertrieben durch Lärm und Dreck, vergiftet durch Müll und Abwasser, verscheucht von ständiger Hektik. Exodus von Amsel, Drossel, Fink und Star. Wobei diese gefiederten Freunde noch einen tadellosen Ruf genießen – anders als die Spatzen. Die wurden ende der 50er Jahre vom Großen Vorsitzenden Mao Zedong als großes Übel ausgemacht. Schließlich fressen sie all den guten Reis weg und sind damit verantwortlich für Hunger, Not und Elend, also müssen sie sterben. Es folgte ein regelrechter Spatzengenozid - Bauern mussten mit Töpfen und Pfannen solange Lärm machen und die Vögel in der Luft halten, bis sie erschöpft oder tot vom Himmel fielen. Blöderweise mündete das in eine Insektenplage und China musste Spatzen aus Russland importieren.

Allerdings haben viele Vögel den Weg zurück in die städtische Gesellschaft gefunden: In Changchun gibt es keine Müllabfuhr, dieser Job wird von vielen Sammlern mit Handkarren und Fahrrädern erledigt. Sie laufen durch die Straßen und fordern die Anwohner laut rufend auf, ihren Müll nach draußen zu bringen. Mit ein bisschen Fantasie erinnern die Rufe an Vogelgezwitscher. Ich werde bei offenem Fenster von einem ‚HähHäääähHäh!’ geweckt. Könnte ein Auerhahn sein. Manchmal sind auch taubenartige Gurrgeräusche zu hören: ‚GuahhGuahh!’, oder aufgeregtes Krähengekreisch: ‚KahhhhKaaaahahaaa!’ (Das R ist auch für chinesische Krähen schwer auszusprechen).

Vogelmensch

Der Legende nach sind die Müllsammler Inkarnationen geschundener Vogelseelen. Klagend schieben sie ihre schweren Karren durch die Straßen und erinnern die Menschen an ihr Leid. Ein bisschen ist das so, als würden sie Material für den Nestbau sammeln. Das schaffen sie dann zu überall verstreuten Resthöfen, auf denen sie das Gesammelte sortieren und in seine Einzelteile zerlegen. Hinter meiner Schule sah ich kürzlich pechschwarze Rauchschwaden aufsteigen – neugierig schaute ich nach. Einige Vogelmenschen hatten zwei Sofas und einen Sessel in Brand gesetzt. So trennen sie für den Nestbau relevantes Material von wertlosem Schrott. In diesem Fall sind sie interessiert am metallenen Innenleben der Couchgarnitur, dem Fundament eines jeden stabilen Nests. Gut für sie, dass sie sich nicht mehr um ihre Artgenossen scheren müssen und guten Gewissens den Himmel verdunkeln können. So leben auch in Changchun Vogel und Mensch wieder glücklich und zufrieden in harmonischer Eintracht.

Vogelmensch




kekue am 16.Apr 10  |  Permalink
Ich sach mal...
Informelles Recycling als ökonomische Strategie- Titel meiner Magisterarbeit :-).

Die Bezeichnung der Gruppe nach Tieren ist weltweit verbreitet (Geier/Kolumbien, Fliegen/Manila, Ameisen/Tokio etc.)
Aber ich hatte keine Studie zu China. Und dass es sogar eine Mythos gibt, dass sie Inkarnationen sein sollen...man, wie spannend...hätte ich das gewusst...

henninger am 18.Apr 10  |  Permalink
1. Platz für kreatives Vögel verscheuchen..
...geht damit an China. Einerseits blöd für die Spatzen, andererseits sicherlich ein interessanter Anblick, wenn die Chinesen auf Töpfe und Pfannen trommeln und die kleinen, gefiederten Freunde vor Erschöpfung tot vom Himmel fallen.
Ich dachte immer, Basti erzählt Seemannsgarn, als er gesagt hat, dass Russen früher als Gastarbeiter nach China rübergemacht haben um dann säckeweise kaputte Vögel bei Mao abzuliefern. Pro Spatz 50 Pfennig. Könnte man den Jobcentern hierzulande mal vorschlagen.
Bis bald...setz Hot Pot an.

jan kammann am 21.Apr 10  |  Permalink
wird angesetzt...
der Hotpot. willst Du etwa die heimischen Vögel von Arbeitslosen deportieren lassen? Deren Seelen ziehen dann auch bald klagend durch die Straßen.
Dann könnte Kekue allerdings auch in Hamburgs Straßen Feldforschung betreiben....