Sozialismus 2.0
‚Der Kampf um die Festigung des sozialistisches Systems, der Kampf zwischen Sozialismus und Kapitalismus um die Entscheidung, wer wen endgültig besiegt, wird sich bei uns noch über eine sehr lange Geschichtsperiode erstrecken.’ (Mao Zedong, 1957)

‚Hunan ist eine schöne Provinz mit viel Wald und Bergen’, sagt Chen. Er hat Recht. Die Landschaft, die vor dem Zugfenster an uns vorüberzieht ist wirklich schön und unberührt. Das sei allerdings auch ein schlechtes Zeichen, meint er. Schließlich weise es auch auf eine schwache Wirtschaft in der Region hin.

Aha. Ich frage mich, was für einen Preis er bereit wäre zu zahlen für mehr Wirtschaftswachstum. Flächendeckend rauchende Schlote, Bergwerke und verdreckte Flüsse? Wir kommen gerade aus Changsha, der Hauptstadt der Provinz, die Chens Angaben zufolge letztes Jahr um sage und schreibe 17% gewachsen ist. Wirklich lebenswert ist es dort allerdings nicht. Der Verkehr ist mörderisch, die Luft unerträglich stickig, unzählige Kräne ragen in die Luft und von überall her dröhnt schweres Baugerät. Davon muss auch Chen sich mal erholen. Der Zug, in dem wir gezwungenermaßen stehen, bringt uns in 10 unfassbar langen Stunden nach Guilin, also in die Nähe Yangshuos, den ultimativen Ferienort Chinas.

Karsthuegel in Yangshuo

Die Antwort nach dem Preis für das Wirtschaftswachstum bleibt Chen während unserer Zugfahrt schuldig. Vielleicht kann Xiaokang sie mir geben. Xiaokang wurde erfunden von Konfuzius und wieder aufgegriffen von Staatspräsident Hu Jintao. Es ist eine Idee, derzufolge das ganze Land langfristig vom Wirtschaftswachstum profitieren und so eine harmonische Gesellschaft entstehen soll. Die breite chinesische Masse vereint in friedlicher Eintracht und Gleichheit.

Die bereits existierende Mittelschicht lebt in den Städten des Mittelreichs – und die Städte wachsen. Als wir uns Guilin nähern fallen sofort die vielstöckigen Rohbauten auf, die nahezu alle chinesischen Städte in gleicher Form umgeben. Künftige Wohnquartiere für Millionen. Xiaokang wird Realität, wenn es sich in diesen Bauten harmonisch leben lässt.

Yangshuo ist anders. Ein wahrhaftiges Urlaubsparadies am wunderhübschen Li-Fluss inmitten fantastischer Karstkegel. Alles ist idyllisch und aufgeräumt, wie China aus dem Bilderbuch. Fast ein bisschen kitschig. Bis früh morgens die Touristenströme einsetzen. Zu Land und zu Wasser – von überallher kommen Massen von konsumwütigen Menschen in die Stadt. Dabei scheint die Anziehung, die der schöne Schein ausübt, mindestens genauso groß, wie die der einzigartigen Landschaft. Die Hauptstraße des Ortes ist eine endlose Aneinanderreihung von Geschäften, Kneipen und Bars. Mit Smartphones und Tablets strömen die Touristen die Straße auf und ab, machen Fotos und freuen sich des Lebens.

Yangshuo Hauptstraße

Beim Anblick seiner kauflustigen Landsleute, würde der allmächtige Mao sich in seinem gläsernen Grabe umdrehen. Oder doch nicht? Heißt Sozialismus vielleicht, alle Menschen in den gleichen Stand versetzen, egal ob sie nun kollektiv auf dem Land schuften oder gemeinsam shoppen und feiern, wie der kleine Teil der Mittelschicht, die in Yangshuo dem guten Leben frönen? Wenn man Xiaokang zu Ende denkt, könnte man meinen, dass genau das damit gemeint ist. Den Großen Vorsitzenden würden am Ende wahrscheinlich nur die imperialistischen Markennamen stören. Und natürlich, dass noch lange nicht alle seiner Landsleute in der Lage sind, hemmungslos ihr Geld zu verprassen. Er würde bemängeln, dass noch immer Menschen in Armut darben, während eine Minderzahl sich schon jetzt, lange vor Erreichen des großen Ziels, der Dekadenz hingibt.

Der Kragen seiner grauen Uniformjacke würde ihm aber dann wohl aber endgültig platzen, wenn er mit ansehen müsste, wie seine Parolen von der Jugend, auf die er so große Stücke setzte, auf Plakaten verunglimpft werden. Sie rufen dazu auf, dem Geld zu dienen, als vielmehr, wie von ihm verlangt, den Menschen. Woanders sind entschlossene Arbeiter zu sehen, die höhere Löhne für einen Audi fordern, anstatt einer höheren Stahlproduktion entgegenzueilen. Oder Bäuerinnen, die glücklich in die Zukunft blicken, weil sie wissen, sie tun es für ihre Dior-Tasche. Der auch post-mortem allgegenwärtige Mao mit seinen wahnwitzigen Slogans nur noch eine Zielscheibe des Spotts? Zu allem Überfluss hat er auch noch großväterliche Konkurrenz bekommen: Colonel Sanders, der nette Hähnchen-Opa aus den USA, ist angetreten, die chinesische Jugend mit einer Kulturrevolution der anderen Art glücklich zu machen. In jeden Kaff eines seiner Restaurants, immer gut besucht. In Yangshuo natürlich in bevorzugter Lage.

harte Arbeit muss sich lohnen

Für Xiaokang bedeutet dies, es müssen noch viel mehr Yangshuos entstehen. Und noch viel mehr Menschen in die Lage versetzt werden, diese auch zu besuchen. Wie ich von Chen erfahren habe, steht der gute Zustand der Wirtschaft in umgekehrtem Verhältnis zum guten Zustand der Natur. Tatsächlich ist also konsequent auch die armen Provinzen, um auch die Menschen dort am Wohlstand teilhaben zu lassen, mit massiven Wirtschaftsprogrammen zu überziehen. Nur steht der Verlust der schönen Natur dann irgendwie auch der Harmonie im Wege. Verdammtes Xiaokang. Gar nicht so einfach.

Und Mao? Wird nun ein System gewinnen wie von ihm vorhergesagt? Der Kapitalismus oder der Sozialismus? Oder muss er sich damit abfinden, dass seine modernen Landsleute einen anderen, weniger absoluten Weg gefunden haben? Sieht fast danach aus.