Ratten
Es wimmelt vor Ratten. Auf dem Boden, in den Fenstern, auf den Geländern, den Stufen und in den Ecken sowieso. Kleine, große, junge, alte, dünne und fette. Auch tote sind dabei. Es stinkt, überall liegen Futterreste und das, was daraus wird. In der Hitze Westrajasthans herrscht geradezu beißender Gestank im Tempel der Karni Mata, der Herrin der Ratten. Den Besuchern ist das egal – sie wollen den heiligen Nagern die Ehre erweisen, sie knien nieder vor den Altären und verwöhnen die Tiere mit mitgebrachten Leckereien. Selig sind jene, die unter den Tausenden Ratten, die eine besondere entdecken. Sie ist weiß und fett und sie verheißt mehr Glück als alle ihre grauen Artgenossen zusammen.

rundum sorglos - Ratten in Deshnok

Nicht weit entfernt der Stadt Bikaner am Rande der Thar-Wüste liegt dieser bizarre Ort im Dorf Deshnok. Pilger kommen, um die Göttin Karna Mata um große oder kleine Gefallen zu bitten. Diese hat sich in ihrer Zeit auf Erden durch allerlei Wunder hervorgetan – sie brachte Amputierte zum Laufen und unterstützte die Kriegsherren Rajasthans in aussichtlosen Kämpfen gegen verschiedene Feinde. Kobrabisse müssen mit ihrer Hilfe nicht mehr tödlich sein und auch in Seenot zu geraten ist kein Problem. Der direkte Draht zu ihr befreit die Gläubigen aus jeder noch so brenzligen Situation. Sogar den Wassermangel in der Wüste überwanden die Menschen der staubtrockenen Region mit ihrer Hilfe. Soweit, so schön. Das können andere Götter auch. Was aber hat es mit Ratten auf sich?

Ich frage Karni Matas Stellvertreter auf Erden. Radhabai, ein schmaler, freundlicher Mann mit wachen Augen, weist Interessierten den Weg zu den Ratten. Er sagt, alle Einwohner Deshnoks seien Familienmitglieder der Göttin, betraut damit, ihr Andenken zu pflegen und sich um das Wohlergehen der Tiere zu kümmern. Das hat neben der Frömmigkeit auch ganz egoistische Gründe: Als Verwandte Karni Matas befinden sie sich in einem ewigen Kreislauf zwischen Mensch und Ratte – die Nager, die den Tempel bevölkern, waren einst Dorfbewohner, deren Seelen nach ihrem Tod in den Körpern der Ratten fortleben. Und denen soll es natürlich gut gehen. Sie bekommen Futter, Milch, sogar ein kleines Fässchen Whiskey steht für sie bereit.

Familienmitglied Karni Matas

Das Privileg der Ratteninkarnation ist nur und ausschließlich den Deshnokis vorbehalten. Sie boten der Göttin in grauer Vorzeit nach einer langen Odyssee und Verfolgung durch hinterlistige Widersacher einen sicheren Hafen. Stolz auf sein Erbe blickt Radhabai verantwortungsbewusst in den Tempel, dessen Eingangstor mit prachtvollen Rattenreliefs verziert ist.

Aber warum Ratten? Hätten es nicht auch Tiger, Elefanten, Adler oder meinetwegen auch Affen sein können? Das erklärt Radhabai damit, dass Karni Mata einst einen Gestorbenen von den Toten erwecken wollte. Dazu musste sie den Totengott Yamu anhauen. Dieser sagte, dass er die Seele des Betreffenden schon anderweitig verwertet habe. Auferstehung unmöglich. Daraufhin erklärte Karni Mata wutentbrannt, alle ihre Angehörigen würden von nun an in Ratten fortleben. Durch diesen Kniff startete sie ihren eigenen kleinen Inkarnationszyklus, denn auf Ratten hat Yamu keinen Zugriff.

AUfpassen, wo man hintritt. Auf keinen Fall eine Ratte verletzen - sonst wird es teuer.

Tempel von aussen

Ich verlasse den Tempel und frage mich, wie es sich wohl als Verwandter Karni Matas so lebt. Folgt aus der Familienbande ein fatalistischer Gleichmut, mit dem sich der Alltag in der Wüste leichter ertragen lässt? Freuen sich die Menschen darauf, nach ihrem Tod ein sorgloses Leben als Nagetier zu führen? Oder würden sie den Kreis gerne durchbrechen und zur Abwechslung mal in anderer Form weiterexistieren?

Im guten Gefühl nicht zu wissen, was das nächste Leben so bringen wird, fahre ich zurück nach Bikaner und bin froh, nicht versehentlich eine Ratte totgetreten zu haben – diese wäre dann zu meinem Lasten mit Gold aufgewogen worden.

gluecklicher Nager




monty freeman am 23.Sep 11  |  Permalink
niedlich, diese possierlichen kleinen nager. schön fotografiert auch, und mal wieder sehr lehrreich und verständlich erklärt- besser als aiman abdallah, ranga yogeshwar und peter lustig zusammen :)