Training Days
Meine Zeit in Changchun geht dem Ende entgegen. Schade eigentlich – ein knappes Jahr reicht wohl nicht aus, die Geheimnisse dieses Landes zu durchdringen. In meinem Fall liegt es wohl daran, dass ich das wichtigste Werkzeug noch immer nicht angemessen nutzen kann. Zwar sind meine Chinesischkenntnisse mittlerweile nicht mehr nur ‚fei chang bu hao’‚ 'außerordentlich nix gut', sondern nur noch ‚bu hao’, 'nix gut'. Schon mal ein Schritt in die richtige Richtung, aber doch ein Quell niemals endender Missverständnisse. Sei es bei der Arbeit, in Spießlokalen oder beim Einkaufen – antworte ich auf eine Frage auf Chinesisch, konfrontiert mein freudiges Gegenüber mich sofort mit einem ungeheuren Wortschwall. So sehr ich auch versuche, das Gesagte zu verstehen – in den wenigsten Fällen gelingt es mir. Meinen Gesprächspartnern scheint das egal zu sein – fröhlich reden sie weiter auf mich ein. Das ist anstrengend und frustrierend, weil ich fast immer um eine Antwort verlegen bin.

Die merkwürdigsten Begegnungen dieser Art kann man machen während ausgiebiger Zugreisen durchs Land. In den letzten Monaten habe ich über 12.000 km Fahrstrecke mit diesem chinesischsten aller Verkehrsmittel zurückgelegt. Nirgends kommt man seinen Mitmenschen so nahe wie hier. Zwangsläufig ergeben sich intensive Gespräche und intimer Körperkontakt. Generell wird man in vielen Landesteilen Chinas als Ausländer bestaunt wie ein seltenes Tier - und ein seltenes Tier will man natürlich auch mal anfassen, mit ihm auf Fotos posieren oder es einfach nur stundenlang ausgiebig anstarren und studieren. Gerne diskutiert man natürlich auch lauthals das komische Verhalten dieses seltsamen Wesens und stellt Mutmaßungen an über Herkunft und Fortpflanzungstrieb.

Außerdem neigen viele chinesische Zugbegleiter ganz offenbar dazu, Telefonnummern von Ausländern als eine Art Trophäe zu sammeln. In den seltensten Fällen rufen sie dann mal an. Wenn, dann mit einer fürchterlichen Penetranz. So zum Beispiel Guo Jia Wi aus Gansu. Anfänglich rief er täglich an, um mich zu sich nach Hause einzuladen. Dummerweise ist sein Zuhause 3.500 km von meinem entfernt, also ein bisschen weit, um mal eben kurz vorbeizuschauen. Unsere Gespräche beschränken sich stets auf diese Einladung und auf wenige Sympathiebekundungen. Ich kann seinen Ausführungen immer nur zustimmendes ‚Mmmh! Mmmh! Hao! Hao!’ entgegensetzen. Ihn scheint das nicht weiter zu irritieren, ruft er doch immer wieder an.

Es kann unheimlich anstrengend sein, ständig das Zentrum des allgemeinen Interesses zu stehen. Besonders, wenn man sich nicht mal eben schnell in einem Parkhaus verstecken kann. In Zügen gibt es keine Möglichkeit sich ausreichend zu tarnen. Kopfhörer geben ein Zeitpolster, bieten aber keinen ausreichenden Schutz. Man müsste sie zusätzlich durch Augenklappen ergänzen, will man seine Ruhe haben. Meine Kopfhörer garantierten mir auf einer Fahrt vom zentralchinesischen Zhengzhou nach Ji`An etwa eine halbe Stunde Entspannung. Dann konnte es einer der Mitreisenden, mit denen ich zwischen zwei Waggons ausharren musste, nicht mehr aushalten. Er riss mir die Kopfhörer vom Kopf und rief: ‚Ni shi na guo ren?’,Aus welchem Land kommst Du?’ Ich antworte brav, dass ich aus Deutschland komme. Er guckt enttäuscht, mit seinen Kumpels hatte er gewettet und verloren. Franzose war sein Tipp.

Dabei ließ er es dann aber nicht bewenden. Den üblichen Smalltalk beherrsche ich schon ganz gut. Es geht um Einkommen und Beruf und chinesisches Essen. Alles hao. Aber die Neugier des schon einigermaßen betagten Mannes war noch immer nicht gestillt. Der Silberrücken entsandte einen seiner jüngeren Begleiter, um einen Dolmetscher zu finden. Der ließ nicht lange auf sich warten. Gut für mich – er musste das Fragenfeuerwerk schließlich erstmal filtern. Nach kurzer Zeit wirkte der arme Mann gestresst. Ich war mittlerweile in der schwitzigen Umklammerung des Alphatieres gefangen. Er murmelte selig was von ‚Pengyou, Pengyou’ (Freund, Freund). Nach einer ausgiebigen Fotosession fasste er dann einen Entschluss: Er forderte mich auf, seine Tochter kennen zu lernen. Die würde Zuhause warten und sich bestimmt freuen, mal einen Deutschen zu treffen. Oh Nein, Oh Nein. Nach stundenlanger Belagerung hatte ich mich schon gefreut, dass er bald aussteigt und ich den Rest der Fahrt in Ruhe genießen kann – und jetzt das. Ich war überfordert – und gleichzeitig überwältigt von diesem Akt der Gastfreundschaft. Trotzdem gelang es mir, mich aus seinen Fängen zu lösen. Schließlich hatte ich doch keine Zeit und war durch die vergangenen Stunden bereits völlig verausgabt. Rückblickend denke ich allerdings, gucken hätte ich ja mal können.

Big Daddy. Leider werde ich seine Tochter niemals kennenlernen.

Eine weitere Merkwürdigkeit ereignete sich auf einer Fahrt zwischen Changchun und Peking. Als letzter hasstete ich den Bahnsteig entlang und erreichte in allerletzte Minute die Zugtür. Der Schaffner war gerade dabei die Tür zu schließen, als mir ein aufgeregter Typ plötzlich eine türkise Papiertüte in die Hand drückt. Was soll das? Er steht vor der Tür und faselt hektisch irgendwas von seinem Freund, der im Zug sitzt und die Tüte unbedingt braucht. Er fordert mich auf, ihm mein Handy zu geben. Irritiert leiste ich seinen Anweisungen folge, der Schaffner macht Stress, wir müssen los. Er hackt seine Nummer in das Telefon und schmeißt es durchs Fenster in meine Arme. Der Zug fährt an und er bleibt wild gestikulierend zurück. Offenbar soll ich ihn anrufen.

Natürlich leiste ich seinen Aufforderungen unverzüglich folge. ‚Tüte!’, sage ich. ‚Ja!’, sagt er, ‚Sein Freund braucht sie’. Ja Ja, denke ich mir, er kann sie sich ja bei mir abholen. Den Rest seiner Anweisungen verstehe ich nicht, sage aber noch freundlich Tschüß und lege auf. Er ruft wieder an. Ich weiß nicht, was er will. Er selbst auch nicht. Ich lege auf. Er ruft wieder an, ich lege wieder auf. Dann rufen andere Leute an, immer mit dem gleichen Ergebnis. So geht das eine ganze Weile, bis ich eine geduldige Frau am Telefon habe. Sie erklärt mir nun, dass in Peking jemand auf mich Warten werde, um die Tüte in Empfang zu nehmen. Keine Rede mehr von einem Freund, der die Tüte unbedingt jetzt braucht. Sehr mysteriös das. Ich kann auch nicht reingucken, die Tüte ist zugetackert. Was ist wohl drin? Kürzlich wurde ein Engländer für Drogenschmuggel hingerichtet, fährt mir in den Kopf. 4 Kilo Heroin hatte er dabei. Soviel wiegt die Tüte nicht, höchstens eineinhalb. Macht das einen Unterschied? Ich lege die Tüte auf die Gepäckablage und versuche nicht weiter darüber nachzudenken. Es passiert nichts – keine weiteren Anrufe, keine Drogenfahnder.

Am Bahnhof am nächsten Morgen werde ich tatsächlich auf dem Bahnsteig in Empfang genommen von zwei Männern, die ein Schild mit meinem Namen in der Hand halten. ‚Ich bin Jan’, sage ich. Der eine schüttelt mir kurz die Hand, nimmt die Tüte und geht zu einem schwarzen Audi A 8. Der ist mitten auf dem Bahnsteig geparkt. Das ist sogar in China ungewöhnlich. Die Scheiben sind verdunkelt, ich kann aber erkennen, dass weitere Gestalten im Wageninnern sitzen. Die beiden anderen steigen ein, der Wagen startet und bahnt sich hupend seinen Weg durch die Menschenmenge. Was war das denn jetzt? Wo ist der Freund, dem die Tüte angeblich gehört und wieso bedankt sich niemand bei mir? Eigentlich hatte ich gehofft, noch zu erfahren, was denn drin ist in der Tüte. Vielleicht Pläne zur Urananreicherung, die Weltformel oder doch nur profane Drogen?

Viele Begegnungen sind also oft skurril und geprägt von Missverständnissen. So sehr ich auch versuche, mir einen Reim auf alles zu machen, so sehr habe ich oft das Gefühl, hoffnungslos daneben zu liegen. Nichtsdestotrotz waren (fast) ausnahmslos alle Menschen, die ich getroffen habe freundlich und offen. Ihre Neugier ist überwältigend genauso wie die Gastfreundschaft. Wie zum Beispiel in einem Wüstenkaff in der Provinz Ningxia, wo ich von einer ganzen Familie verköstigt und betüdelt wurde. Hier hatte man sogar Geduld mit mir und ich konnte alle Fragen zur allgemeinen Zufriedenheit beantworten. Die Familienvorsteherin wollte mich sogar zum Bleiben bewegen. Sie sagte, sie würde gerne mehr erfahren über die Welt, aus der ich komme – und ich würde gerne mehr erfahren von ihrer Welt. Vielleicht besuch ich sie noch mal.

Wuestenfamilie

Genauso harmonisch verlief ein Treffen mit einer Gruppe Studenten am Bahnhofsvorplatz in einer anderen Wüstenstadt. Sie versorgten mich fröhlich mit Bier und forderten mich auf, ihre Frisuren zu bewerten. Intern hatten sie den einzigen Langhaarigen ihrer Gang als hässlichen Vogel ausgemacht, der dringend einen Haarschnitt braucht. Obwohl er überzeugt ist von seiner Haarpracht, wird er sich dem Druck nicht lange beugen können, denn auch die Damen waren einhellig der Meinung, seine Frisur sei schlicht scheiße.

Frisurentrends

Begegnungen dieser Art werde ich vermissen. Sie führen mir vor Augen, dass das Leben, wie ich es kenne, nicht zwangsläufig der Weisheit letzter Schluss ist. Hinter der vordergründigen Sprachbarriere verbirgt sich ein ganzes Universum von anderen Lebenskonzepten und Wahrnehmungen, unterschiedlichen Weltanschauungen und Philosophien, die genauso richtig oder falsch sind wie meine eigenen. Ist halt alles irgendwie relativ - von den Frisuren mal abgesehen.

Bis zu meiner Rückreise habe ich noch einige 1.000 km in öffentlichen Verkehrsmitteln vor mir. Ich bin überzeugt, ich werde weiterhin auf so viele freundliche und interessante Menschen treffen. Vielleicht finde ich noch Gelegenheit, an dieser Stelle ein paar Geschichten zum Besten zu geben – ansonsten bedanke ich mich für die Aufmerksamkeit und freu mich auf zu Hause. Wir sehen uns. Vorzugsweise vor irgendeinem Kiosk in oder um St. Pauli oder irgendwo im Grünen bei Spießchen und Bier.

Bis dahin – ich freu mich auf Euch!