Spirituelle Tour de Force – Stairway to Heaven
Die letzte Etappe auf meiner Reise heißt Tai’An, eine Stadt am Fuße des heiligen Tai Shan. Heilig ist eigentlich untertrieben, der Tai Shan ist der heiligste der insgesamt 5 heiligen Berge des Daoismus – die Grabeskirche der Chinesen sozusagen. Nur Maos Mausoleum in Peking ist noch heiliger.

Tai’An ist eine recht gemütliche Stadt - ihre Einwohnerzahl liegt nur im einstelligen Millionenbereich, man kann sich also schnell in ihr zurechtfinden. Vor dem Aufstieg zum Gipfel über immerhin 6.600 Stufen stärke ich mich mit Spießen. Offenbar nicht nur in Changchun ein kulinarisches Highlight. Sowieso glaube ich, die Großartigkeit Chinas und sein Aufstieg zur Weltmacht hängt unmittelbar mit der Zubereitung von Speisen auf Spießen zusammen. Vielleicht auch noch mit der wilhelminischen Braukunst – mit einem ‚Tsingdao’-Pils, einem der letzten Überbleibsel teutonischer Expansionspolitik in China, spüle ich die scharf gewürzten Happen herunter.

Jährlich zieht der Berg angeblich fast 6.000.000 Touristen und Pilger an, das sind über 16.000 Menschen täglich. Kann ich mir kaum vorstellen. Vielleicht wurde da geschummelt, ich habe diese Zahl aus einem chinesischen Reisführer. Am Tag meines Aufstiegs ist es jedenfalls angenehm leer. Andererseits – zu Zeiten der chinesischen Neujahrsferien mäandern gefühlte Milliarden von Sehenswürdigkeit zu Sehenswürdigkeit. Wie auch immer, vor mir haben auf jeden Fall schon die prominentesten aller Chinesen den Aufstieg gewagt: darunter der erste Kaiser Qin Shihuang, Konfuzius und natürlich der Große Steuermann Mao Zedong. Der wird auf dem Berg stehend mit den Worten ‚Der Osten ist rot’ zitiert.

Bevor ich das beurteilen kann, muss ich erstmal die Stufen hinter mich bringen. Auf dem Weg zum Gipfel kommt man an vielen kleinen Tempeln vorbei, in denen man seine Ahnen ehren kann. An steinalte Zypressen kann man Schleifen mit Geldscheinen befestigen, die dann in den Besitz der Vorfahren übergehen. Habe ich noch in Qufu die Rufe meiner Ahnen ignoriert, lasse ich mich diesmal nicht lumpen und spende ihnen auch eine Kleinigkeit. Ich hoffe, sie brechen über die Aufmerksamkeit nicht in Streit aus und gehen sparsam mit dem Yuan (10 Cent) um. Ist zwar nicht viel, aber der alte Laozi, der Begründer des Daoismus, sagt schließlich, man solle sich aus weltlichen Dingen zurückziehen. So gesehen ist eine Geldspende sogar kontraproduktiv.

Ahnenbaum

Entlang der scheinbar endlosen Treppe komme ich immer wieder an kleinen Altaren versehen mit Schlössern vorbei. So genannte Herzschlösser. Pärchen kaufen ein solches Herzschloss, schreiben ihre Namen drauf und ketten es an den Altar. Damit besiegeln sie ihr Schicksal – solange das Schloss hier hängt, sind sie nun unzertrennlich. Ich stehe da ganz alleine rum und guck blöd aus der Wäsche. Deshalb bin ich froh, dass Arthur, Turbobergsteiger und Geschäftsmann aus Shenzhen, des Weges kommt und wir gemeinsam den Rest des Tai Shan hoch hetzen können. Vorher zieht er aber noch zwei Dosen ‚Hong Niu’, Red Bull aus der Tasche und ermahnt mich, schnell zu trinken. Nur so wirkt der Stoff.

Herzschlossaltar

6600 Stufen. 'Red Bull...' Ja Ja, ihr kennt ja den Slogan...Arthur glaubt dran.

Dank Arthur verhalte auch ich mich nun angemessen auf dem Berg. Er erklärt mir, dass man unter keinen Umständen durch die vielen Tore geht, die die Stufen in Etappen einteilen. Das ist ausschließlich den großen Lenkern des Landes vorbehalten – das gemeine Fußvolk geht immer rechts vorbei. Ich will nicht respektlos sein und halte mich an die Anweisung, obwohl die meisten anderen Bergsteiger davon ziemlich unbeeindruckt scheinen.

Angeblich braucht man sechs Stunden für den Aufstieg – nicht mit Arthur. Als Geschäftsmann hat er es überall eilig und ich hab Mühe Schritt zu halten mit dem drahtigen Burschen aus Südchina. Auf dem Weg überholen wir auffällig viele alte Leute. An Gehstöcken schleppen sie sich quälend langsam die Treppen hoch. Arthur sagt, sie wollen schon mal den Ahnen ‚Hallo’ sagen, damit sie Bescheid wissen, wer da bald klopft an der Himmelspforte. Wir kaufen noch ein paar Dosen Red Bull.

fast oben mit Arthur (rechts) und einem Überholten.

Nach sagenhaften 3 Stunden erreichen wir dann das letzte Tor – das Tor zum Himmel. Von hier an, sagt Arthur nun, müsse ich alleine weitergehen. Er kann auf keinen Fall mit auf den Gipfel kommen, warum das würde er später erklären. ‚Hm, vielleicht Höhenangst’, denke ich und laufe weiter dem Himmel entgegen. Oben angekommen, kann ich Maos Spruch der Osten sei rot nicht nachvollziehen. Er ist eher grau. Liegt wohl am schlechten Wetter. Trotzdem hat sich der Aufstieg gelohnt, das Gebirge ist rau, es ist nebelig und gerade deswegen wirkt alles irgendwie mystisch.

Der Osten ist grau.

Als ich wieder runtersteige, sehe ich Arthur schon von weitem Winken. Bin neugierig, was es mit seiner plötzlichen Verweigerungshaltung auf sich hat. Er erklärt mir, dass er als erfahrener Bergsteiger noch nie ganz oben auf einem Gipfel gewesen ist. ‚Was soll nach dem Gipfel noch kommen?’, fragt er, ‚Nur noch der Abstieg’, gibt er selbst die Antwort. Als Geschäftsmann ist er verantwortlich für über 1000 Mitarbeiter, die in Shenzhen Lautsprecher zusammenbauen – und das ist erst der Anfang. Es soll also weiterhin aufwärts gehen mit seiner Firma, der Gipfel ist noch lange nicht erreicht. Erst wenn das der Fall ist, also im hohen Rentenalter, kommt er noch mal wieder und bringt zu Ende, was er angefangen hat. Geht’s für mich jetzt etwa nur noch abwärts?

Oder westwärts – dahin hat es Laozi jedenfalls vor mehr als 2500 Jahren auf einem Wasserbüffel reitend gezogen. Genauso wie Konfuzius hat auch er den moralischen Verfall seiner Zeitgenossen beklagt und sah keinen anderen Ausweg als das Exil. Die Legende will es, dass er dann in Indien Buddha gelehrt hat oder sogar selbst zu Buddha wurde – schließlich kam der Buddhismus aus Indien. Aber das scheint selbst vielen Chinesen, die sonst ALLES erfunden haben, eher abwegig.

Für mich geht’s jetzt tatsächlich erstmal abwärts. Aber auch für Arthur. 6600 Stufen bis zum nächsten Spießlokal und einem leckeren Tsingdao. Abstiege können also auch was Gutes haben.

(mit-)verantwortlich für die chinesische Hochkultur - Grillmeister in Tai An




henninger am 09.Apr 10  |  Permalink
Beeindruckend!
Dass Du allerdings die drahtigen Chinesen überholt hast, halte ich für'n Gerücht. Mystisch ist im Rheinland übrigens alles, was so dem täglichen Aufschub zum Opfer fällt: "Müstisch mal machen!". Das trifft auch für Dich und Deine unstillbar kohlehungrigen Schergen. Damit Du lecker Spieße schlickern kannst, muss stets neuer Brennstoff her. Was ist dagegen das Great Barrier Reef! Kollateralschaden! Die Korallen sind auf Spießchen eh besser aufgehoben als unter Wasser.