Reformpädagogik
Heute war es soweit - der erste Unterrichtstag. Das heißt, noch immer nicht wirklich. Da die Deutschklassen erst wieder im Oktober beginnen, habe ich darum gebeten in Englischkursen eingestzt zu werden. Sonst ist es einfach zu langweilig. Außerdem werde ich hier bezahlt, beziehe Kost und Logis für lau und nutze die Sportgeräte regelmäßig - habe also das Bedürfnis, eine Gegenleistung zu erbringen.

Also wurde ich einer Klasse von Miss Karen, so ihr englisches Pseudonym, zugeteilt. Sie ist die Chefin aller Englischlehrer für die Juniorklassen. Sie war sehr aufgeregt als sie mich vor der zweiten Stunde um 7.50 in Empfang nahm. Es entstand der Eindruck, sie wusste nicht so recht, in welcher Funktion ich gekommen war. Spion?

Ich habe sowieso das Gefühl die meisten Kollegen, sehen in mir einen netten Sonderling aus einer anderen Welt. Der einzige, der meine wirkliche Mission kennt, also im Namen unserer Kultusministerkonferenz die deutsche Sprache zu propagieren, ist Mr. Liu Pengfei. Er ist hier der Deutschlehrer, aber nicht aufzutreiben. Werde meine Bemühungen ihn zu finden nochmal verstärken.

Nun also Englisch. Erstmal nur zur Ansicht bei Miss Karen. Schüler, Miss Karen und ich selbst sind sehr angespannt als ich vor die Klasse trete. 30 Augenpaare gucken mich neugierig und erwartungsfroh an. In bestem chinesisch gebe ich meinen Namen, meine Herkunft und meinen Titel 'laoshi Yang', Lehrer Yang, zum besten. Das ist ganz wichtig, denn es klärt die Hierarchien. Man spricht Menschen hier mit ihrem jeweiligen Titel an, also Chef Zhang, Manager Shao, Vater Tian oder auch Mutter Wang. Meine Ansprache erheitert die Kids und sie jauchzen mir lauter 'Hello Mr. Yang' entgegen. Die Stimmung hat sich also entspannt, außer die von Miss Karen, die immer noch sehr nervös wirkt.

Ich nehme in der letzten Reihe meinen Beobachtungsposten ein. Miss Karen fordert die Klasse auf, sie wie gewohnt zu begrüßen. Alle spingen auf und brüllen 'Good Morning'. Dann geht es los. Als erstes mit dem Aufarbeiten der Hausaufgaben vom Vortag. Immer jeweils ein Schülerpärchen muss aufstehen und einen Dialog bei einem Arzt nachsprechen:

Schüler 1 (Doktor): 'What's the matter?'
Schüler 2 (Patient): 'I have a cold!'
Schüler 1: 'You should take some medicine!'

Dialogende, die nächsten sind dran.

Schüler 3 (Doktor): 'What's the matter?'
Schüler 4 (Patient): 'I have a sore throat!'
Schüler 3: 'You should drink hot tea!'

Dialogende. Nachdem alle einmal dran gewesen sind, das Ganze nocheinmal im Chor. Ohrenbetäubend laut ist das. Zeit verschwendet wird in dieser Klasse nicht. Mit pädagogischen Absurditäten wie Gruppenübungen, Still- oder gar Freiarbeit gibt man sich hier nicht ab. Trotzedem werde ich das Gefühl nicht los, dass Miss Karen meinetwegen so ein Wahnsinnstempo vorlegt. Aber die Schüler ziehen bereitwillig mit, als wollten sie mir zeigen, was sie schon alles können. Nach jedem Satz werfen sie mir fragende Blicke zu, um sich meiner Zustimmung zu vergewissern. Miss Karen wirkt noch immer angespannt. Anspannen würde mich vielmehr die Kamera, die unübersehbar in ihrem Blickfeld auf der gegenüberliegenden Seite des Raums angebracht ist.

Weiter geht's. Nun eine Übung zum Thema: 'How can we stay healthy?' Miss Karen liest einmal den gleichnamigen Text aus dem Arbeitsbuch vor. Dann alle aufstehen und im Chor lesen. Dann wieder laut lesen in Pärchen. Nun werden einzelne Wörter rausgepickt und die Aussprache geübt. Und wenn ein Schüler dasselbe Wort 50mal sagen muss - er macht dies solange, bis er es Miss Karens Ansicht nach richtig ausgesprochen hat.
Um gesund zu bleiben ist übrigens folgendes zu beachten:

1. eat right
2. sleep right
3. do not smoke
4. exercise to keep right

Das ist im Wesentlichen die Formel für ein langes Leben. Ich kann es kaum erwarten, mir die nächste 'Double Happiness' in den Hals zu stecken.

Als nächstes folgt noch ein kleiner Text zur Ernährung nach dem Yin/Yang Prinzip. Hier wird ähnlich verfahren wie zuvor. Der Text interssiert mich trotzdem. Würde gern mehr über das Yin/Yang-Prinzip erfahren. Nur soviel: Neigt man zu Aggressivität und Angespanntsein, ist das Yang im Übergewicht. Man sollte verstärkt Yin-Lebensmittel konsumieren, zum Beispiel Gemüse und Tofu.
Neigt man jedoch zu Müdigkeit und ist ständig schlapp, dann sollte man das Yang stärken. Das geht mit Fleisch und scharfen Gewürzen. Vielleicht sollte man also viel scharfgewürztes Fleisch frühstücken, wenn man beschwingt in den Tag starten will.

Die Stunde nähert sich ihrem Ende. Noch 2 Minuten und der Gong läutet - jeder Lehrer in Deutschland würde jetzt zusammenpacken lassen - nicht so Miss Karen. Sie beginnt direkt die nächste Übung, die nach demselben Muster wie die Übungen zuvor anläuft. Sie kann jedoch nur angerissen werden, denn sie wird nach dem ersten Dialog eines Schülerpärchens vom Gong unterbrochen.

Ich fand den Unterricht gut - Schulunterricht mit chinesischen Merkmalen. Miss Karen verfährt mit der Wissensvermittlung ähnlich wie Seagull. Durch Drill und ständiges Wiederholen lernt man schließlich auch was. Sie ist aber anderer Meinung - schlecht sei es gewesen, sagt sie. Ich solle doch morgen noch andere Stunden ansehen, da wird es dann besser laufen - fühl mich nicht in der Lage das beurteilen zu können.
Nun werde ich demnächst selbst unterrichten und wenn ich meine Glaubwürdigkeit nicht verlieren will, verzichte ich besser auf die moderen Pädagogikkonzepte, die ich irgendwann mal in der Uni aufgeschnappt habe. Kann mir die irritierten Blicke der Schüler schon vorstellen, wenn es wieder heißt: Stationenlernen mit Laoshi Yang - und im Videoüberwachungsraum würde man argwöhnisch die Brauen hochziehen, vielleicht sogar in lautes Gelächter ausbrechen. g