Changchun ist keine alte Stadt - im Gegenstaz zu den großen chinesischen Metropolen, gibt es hier keine jahrtausendealten Traditionen, auf die die mittlerweile fast 7,5 Mio. Einwohner im Großraum Changchun stolz zurückblicken könnten.
Wirkliche Bedeutung erlangte die Stadt erst mit der Besatzung der Japaner, die dem letzten Kaiser Pu'Yi der Qing-Dynastie 1931 in Changchun einen Palast bauten und die Stadt zur Hauptstadt ihres Mandschuko-Reiches machten. Nach dem 2. Weltkrieg und dem Rückzug der Japaner geriet die Stadt zwischen die Fronten der republikanischen Kuomintang und Maos Koummunisten, die dann letzlich siegten und am 1. Oktober 1949 in Peking die Volksrepublik China ausriefen.
Natürlich verlor Changchun seinen Status als Hauptstadt - als Industriestadt wuchs sie jedoch rasend schnell. 1953 ließ der Große Vorsitzende Mao Zedong mit russischer Hilfe die Autofabrik Nr.1 in der Stadt errichten. Das erste in Serie produzierte Modell war der Militärlaster Jiefang 'Befreiung', 1958 folgte ein legendärer ziviler PKW namens 'Ostwind' und etwas später die repräsentative Staatskarosse Hong Qi. Das bedeutet 'Rote Fahne'. Bezeichnenderweise befindet sich meine Wohnung in der Hong Qi Road. Nomen est Omen - die Straße ist so stark befahren, dass es zu keiner Tageszeit möglich ist, sie ungefährdet zu überqueren. Heute allerdings nicht mit Jiefangs und Hong Qis, sondern mit VW Santanas, Jettas, Passats, verschiedenen Toyotas, Audis, Range Rovern und Cherys, einer erfolgreichen chinesischen Autofirma. Nicht zu vergessen die überfüllten Busse, deren Piloten die wahren Helldriver sind.
Vielleicht liegt es an der kurzen und nicht wirklich glorreichen Geschichte, das man in Changchun besonders radikal mit allem Alten umspringt. Alles muss neu. So lautet die Devise der Stadtplaner. Überall Baulärm und riesige Baulöcher. Die kommunistischen Arbeitersiedlugen müssen neuen Appartmentblocks oder Einkaufszentren weichen. Das führt mitunter zu grotesken Kontrasten. Hinter alter, zweckmäßig kommunistsicher Bebauung, glitzert schon die Fassade eines neuen Hochhauses, deren Bewohner ihre schweren Autos vorbei an Eselskarren und heruntergekommenen Hütten in ihre neuen Parkgaragen lenken - und nur hier und da ist noch ein alter Truck der Marke 'Befreiung' zu sehen. Die wirkliche Befreiung liegt in den Augen der Chinesen offenbar in Westschlitten mit getönten Scheiben - die eignen sich besonders, um den Status zu untermalen.
Sieben Tage die Woche sind sogar nachts die Baustellen in Betrieb. Der Bau einer neuen Wohanlage auf dem Nachbarsgrundstück raubt mir den Schlaf. Ständig karren schwere LKW Baumaterial ran und fahren den Schutt der abgerissenen Häuser ab. Wenn ich im Bett liege und zum Einschlafen dem lieblichen Brummen der Trucks lausche, bekomme ich das Bild von völlig übermüdeten Fahrern in viel zu großer ausrrangierter Armeekleidung, die sich am Lenkrad festkrallen und ihre Fahrzeuge hochtourig auf die Kreuzung steuern, nicht aus dem Kopf. Kleine Männlein in viel zu großen Maschinen, die ihr Leben dem Fortschritt opfern müssen. Auf das Straßenbild in meiner Nachbarschaft wirkt sich das in etwa so aus:
oder so:
Ich denke mir, dass diese ganze Veränderungswut das Leben vieler Chinesen unheimlich stressig machen muss. Wer will schon weiterhin mit einem Eselskarren durch die Gassen fahren oder sich gar als Landwirt auf einem Feld verdingen, wo es doch jetzt all diese tollen neuen Autos und Wohnungen gibt. Aber wie finanzieren? Da hilft nur arbeiten arbeiten arbeiten - aber das Gute ist - die Hoffnung arbeitet mit.

jan kammann am 07. September 09
|
Permalink
|
0 Kommentare
|
kommentieren